Besser, in Ehren unterzugehen?

Der 98-jährige Berliner Karl Richter war schon bei der Zerschlagung der Gewerkschaften vor 70 Jahren Funktionär des Buchdruckerverbandes. Doch noch heute ist er sich nicht sicher, ob die Gewerkschaften nicht vor den Nazis versagten

von PHILIPP GESSLER

Das Hörgerät hat er vom Ohr genommen – kann Karl Richter angesichts der vorbeifahrenden Autos überhaupt etwas verstehen? Der 98-Jährige steht auf dem Gehweg der Inselstraße in Mitte. Es ist ihm wichtig, hier zu sein: An dem Zwanziger-Jahre-Bau des Architekten Max Taut wird eine Gedenktafel enthüllt, die an Theodor Leipart erinnert. Eine tragische Figur. Leipart war von 1921 bis 1933 Vorsitzender des ADGB, der Vorläufer-Organisation des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Vor 70 Jahren zerschlugen die Nazis die freien Gewerkschaften, besetzten ihre Verbandshäuser. Eine Niederlage für die Arbeiterschaft. Eine selbst verschuldete?

Wer die Erinnerungen Richters zum 2. Mai 1933 hört, hütet sich vor schnellen Urteilen. Er war damals Vorsitzender des 5. Bezirks (Stadtmitte) des Verbandes der deutschen Buchdrucker in Berlin. Richter erinnert sich, wie 30 SA-Männer, teilweise in Zivil, teilweise in Uniform, in das Gewerkschaftshaus seines Verbandes an der heutigen Dudenstraße stürmten. Alle Vorstandsmitglieder, die zu einer turnusmäßigen Sitzung kamen, mussten an den Schusswaffen der SA-Männer vorbeilaufen. Auf dem Hof verbrannten die Nazis Bücher und Akten des Verbandes.

Schon im April hatten sie das Archiv zerstört, eine Büste Gutenbergs beschädigt und einer Bronzebüste des legendären SPD-Vorsitzenden August Bebel den Kopf abgeschlagen. Im ADGB-Haus an der Inselstraße wurde Leipart am gleichen Tag von den braunen Schlägern verhaftet und misshandelt. „Stundenlang strömten, anscheinend auf Bestellung, Neugierige ins Haus, um uns zu begaffen und auch ihre Nazibemerkungen zu machen“, schreibt der Gewerkschaftsboss in seinen Erinnerungen, „Wenn sie jedes Mal gefragt wurden: ,Habt ihr das Schwein, den Leipart schon gesehen? Da sitzt er, das Schwein.‘ “

„Organisation vor Demonstration“: Nach diesem Motto hatte Leipart nach der Machtergreifung der Nazis am 30. Januar 1933 auf die anrollende Diktatur reagiert – ein auch innerhalb der Gewerkschaften umstrittener Kurs. So trat etwa der Vorsitzende des „Allgemeinen Freien Angestelltenbundes“ (AFA), Siegfried Aufhäuser, aus Protest gegen diese Strategie Ende März zurück. Im Rückblick warf er den Gewerkschaften vor, mit diesem Kurs „hart an die Grenzen nationalsozialistischer Politik“ gelangt zu sein. War das übertrieben? Obwohl die Gewerkschaften schon vorher drangsaliert worden waren, rief der ADGB-Bundesvorstand unter Leipart alle Mitglieder am 15. April 1933 auf, zu den gleichgeschalteten Maikundgebungen am 1. Mai zu kommen.

Diesen traditionellen Kampftag der Arbeiterklasse hatten die Nazis, gleichsam als Zuckerle für die Gewerkschaften, zum gesetzlichen Feiertag gemacht: „Der deutsche Arbeiter soll am 1. Mai standesbewusst demonstrieren, soll ein vollberechtigtes Mitglied der deutschen Volksgemeinschaft werden“, hieß es in einem Aufruf. Zu dieser Zeit waren die Juden nach dem Boykott gegen ihre Läden schon nicht mehr Teil der „Volksgemeinschaft“. Der Bundesausschuss des ADGB bekräftigte den Aufruf des Vorstands dennoch mit der Aufforderung an die Mitglieder, „sich allerorts an der von der Regierung veranlassten Feier festlich zu beteiligen“. Kein Generalstreik der Gewerkschaften gegen ihre braunen Feinde also, ein Kotau.

Karl Richter verlor nach der Machtübernahme der Nazis als Gewerkschaftsfunktionär und als SPD-Mitglied seine Arbeit. Dagegen erhob er Einspruch – und hatte Erfolg, weil sich seine Betriebsratskollegen für ihn einsetzten. Wegen seiner hohen Qualifikation („Im Russischen würde man sagen: Ich war Spezialist.“) konnte seine Weiterbeschäftigung als „Maschinenführer an einer Tiefdruck-Rotationsmaschine“ einer Druckerei in Mitte durchgesetzt werden. Auch sonst funktionierte die gewerkschaftliche Solidarität noch: Als die Nazis arbeitslose Parteigenossen zu Lasten der Gewerkschafter in den Betrieb schleusen wollten, beschleunigte Richter seine Maschine so, dass die braunen Neulinge total versagten: „Nachdem im Maschinensaal die Zeitschriften kreuz und quer herumlagen, hielt ich die Rotationsmaschine an. In der Zeit, wo wir alles in Ordnung brachten, waren sich die Eindringlinge darüber klar geworden, dass das doch nicht der richtige Job für sie sei.“

Richter wurde von den Nazis überwacht, seine Wohnung wurde durchsucht – nicht alles politisch brisante Material gefunden. Sein „Schriftsetzer-Kollege“ Erich Knauf wurde in die Konzentrationslager Sachsenhausen und Lichtenberg verschleppt. Die Nazis richteten ihn hin – seine Witwe musste noch die Exekutionskosten von 158,18 Reichsmark zahlen. Richter wurde 1939 einberufen in ein Baubataillon der Wehrmacht und überlebte alle Kriegsjahre. Nach 1945 wurde er wieder Gewerkschaftsfunktionär. Bis zur seiner Pensionierung 1969 war er der Landesvorsitzende der IG Druck und Papier. Willy Brandt nahm er nach dem Krieg als Mitglied der Untergewerkschaft „Deutsche Journalisten-Union“ persönlich in seine Gewerkschaft auf.

„Für Willy Brandt“, sagt Richter, „waren die Gewerkschaften immer Stützpfeiler der Demokratie.“ Bei der Tafelenthüllung für Leipart erinnert Dietmar Hexel vom DGB-Bundesvorstand an eine Aussage des früheren Bundeskanzlers und SPD-Vorsitzenden, dass es manchmal richtiger sei, „mit der Flagge in der Hand unterzugehen“, als langsam politisch zu verwesen.

Haben die Gewerkschaften angesichts der braunen Gefahr versagt? Richter meint, einen „richtigen Widerstand“ gegen die Nazis habe es nicht gegeben. Auch weil man geglaubt habe: „Die können sich nicht lange halten.“ Er erinnert an die österreichischen Arbeiterführer, die zum Kampf gegen die Faschisten aufforderten – und „in Ehren untergingen“. Hexel zweifelt: Hätte er als Gewerkschaftsboss zum Widerstand aufgerufen, der den sicheren Tod vieler Mitglieder bedeutet hätte?

Bei einer Diskussion zur „Tragödie der Gewerkschaften“ im früheren ADGB-Haus ermahnt Richter Schülerinnen und Schüler als Lehre aus der Nazizeit: „Ihr sollt immer den Gedanken der Einheit hochhalten.“ Die Jugendlichen hören nicht lange zu. Aber am Ende geben sie dröhnend Beifall. Haben sie verstanden?