Mit den Fäusten beten

Ohne Gnade keine Musik: Im Radialsystem konnte man am Donnerstag die russische „Außenseiterin“ Galina Ustwolskaja kennen lernen. Sie macht in ihrer Musik dem Hörer keine Angebote und heischt nicht nach Effekten

Eigentlich stand das Stück gar nicht auf dem Programm. Doch Roland Kluttig, Leiter des Kammerensembles Neue Musik Berlin, hatte den Pianisten Christoph Grund dankenswerterweise überreden können, seinen Hörern im Radialsystem auch Galina Ustwolskajas Sonate für Klavier Nr. 6 vorzustellen. In gut sechs Minuten wird einem aufs Eindringlichste demonstriert, was die Komponistin unter „espressivo“ verstand: Fast jeder Klang ist ein Cluster, mit der Faust oder gleich dem ganzen Unterarm bei größter Lautstärke zu spielen.

Das Porträtkonzert der 1919 in St. Petersburg geborenen und im Jahr 2006 in ihrer Heimatstadt gestorbenen Komponistin Ustwolskaja beendete am Donnerstag die Reihe „Außenseiter“, in der man zuvor den Mexikaner Silvestre Revueltas und den Kanadier Claude Vivier gewürdigt hatte. Außenseiterin war Ustwolskaja in mehrfacher Hinsicht. Ihre Kompositionen schrieb sie ohne Rücksicht auf Fragen der sowjetischen Zensur bis in die Achtziger weitgehend unter Ausschluss der Öffentlichkeit, trotz wiederholter Fürsprache ihres Lehrers Dmitri Schostakowitsch.

Auch als Mensch scheint sie nicht gerade gesellig gewesen zu sein. „Sie war als Persönlichkeit eine äußerst auf sich gestellte, die Einsamkeit suchende Person“, wie Kluttig die Komponistin in seiner Einleitung charakterisierte. Das bekam wohl auch ihr Förderer Schostakowitsch zu spüren, über den Ustwolskaja später sagte, seine Musik und Persönlichkeit hätten ihr niemals nahe gestanden.

Die Musik Ustwolskajas macht dem Hörer keine Angebote. Sie heischt nicht nach Effekten und verzichtet auf jegliche Klangfarbenmalerei. Außer Schwarz, Weiß und Grau scheint sie keine anderen Lichtwerte zuzulassen. Dennoch ist die Musik von einer überwältigenden Dringlichkeit, die in schroffen dynamischen Kontrasten und extremen Instrumentenkonstellationen zum Ausdruck kommt. In der zu Beginn aufgeführten „Komposition 1“ mit dem Untertitel „Dona nobis pacem“, einem Werk aus ihrer mittleren Schaffensperiode, erlebt man die fast komische Konfrontation einer kieksenden Piccoloflöte mit dem Brummen einer Tuba, rudimentär vermittelt durch ein metallisch hämmerndes Klavier. Nichts fließt, die Musik wirkt wie ein Aufeinanderprallen von Hoch und Tief, Laut und Leise, Hell und Dunkel. Formelhaft wiederholen die Instrumente einzelne Passagen, immer wieder unterbrochen durch völlige Stille.

Seltsame Besetzungen herrschten – mit Ausnahme der Klaviersonate – auch im restlichen Programm vor. Konventionen scheinen die Solitärin nicht groß gekümmert zu haben. So schrieb sie ihre „Komposition 2 – Dies irae“ für acht Kontrabässe, Klavier und Holzkasten, der, vorschriftsgemäß nachgebaut, als flach klapperndes Schlaginstrument zum Einsatz kam. Ihre Sinfonie Nr. 5 hingegen wäre mit der Besetzung von Violine, Oboe, Trompete, Tuba und Schlagzeug plus Sprecher von anderen Komponisten wohl als Kammersinfonie klassifiziert worden. Doch Ustwolskaja konnte das Wort „Kammermusik“ nicht ausstehen, und so musste die Sinfonie mit fünf Instrumenten auskommen.

Eine weitere Besonderheit sind die spirituellen Motive in ihren Kompositionen, die sie zwar nicht als religiös, aber als „von religiösem Geist erfüllt“ betrachtete. So rezitiert der Sprecher in der Sinfonie Nr. 5 wie selbstverständlich das Vaterunser. „Ich schreibe dann, wenn ich in einen Gnadenzustand gerate“, bemerkte Ustwolskaja einst zu ihrer Arbeitsweise. Vielleicht ein Grund, warum sie zeitlebens nur 36 Werke vollendete. Der spröde und konzentrierte Charakter der Kompositionen kam in den Aufführungen des Kammerensembles Neue Musik Berlin gut zur Geltung. Bei aller Schlichtheit im Tonsatz klingt diese Musik stets fremd und wie wenig anderes aus dem 20. Jahrhundert. Und selbst wenn einem die insistierenden Gebete in ihren Sinfonien nicht ganz geheuer sein mögen, dem gewalt(tät)igen Ausdruck der Klangsprache Ustwolskajas tat dies keinen Abbruch. TIM CASPAR BOEHME