: Das Zittern des Fälschers
„Du sagst mir einfach, wie du es findest“: Martin Suter erzählt in seinem neuen Roman „Lila, Lila“ von den kleinen Lügen, die nicht nur den Literaturbetrieb im Innersten zusammenhalten
von KOLJA MENSING
Der Schweizer Autor Martin Suter hat sich in seinen ersten drei Romanen sehr für Menschen interessiert, deren Bewusstsein bestimmte krankhafte Veränderungen erleidet. Alzheimer, Gedächtnisverlust und die unerfreulichen Nebenwirkungen psilozybinhaltiger Pilze waren die verhältnismäßig aufwändigen Hilfskonstruktionen, um seine Figuren, wie einer seiner Titel bereits vorwegnahm, auf die „dunkle Seite des Mondes“ zu befördern.
In „Lila, Lila“ hält er sich nun strikt an die Pathologie des Alltags und baut die gesamte Handlung auf einer einzigen, unvorsichtigen Lüge auf. David ist Anfang zwanzig und jobbt als Kellner in einer Bar. Eines Tages entdeckt er bei einem Trödler einen alten Nachttisch, den er für ein paar Franken ersteht. In der Schublade des staubigen Möbelstücks findet er ein bisher offenbar unveröffentlichtes Romanmanuskript. „Das ist die Geschichte von Peter und Sophie. Lieber Gott, lass sie nicht traurig enden“, lautet der erste Satz einer Liebesgeschichte aus der Nachkriegszeit. David versteht nicht viel von Literatur, aber ein wenig von Frauen, und darum zeigt er Marie, in die er sich verliebt hat, eine Kopie des Manuskriptes auf blütenweißem Papier.
Auf der Titelseite prangt jetzt sein eigener Name. David ist unter die Schriftsteller gegangen: „Du sagst mir einfach, wie du es findest.“ Es ist nur eine kleine, vielleicht sogar verzeihliche Täuschung, doch Marie gefällt der Roman so gut, dass sie ihn an einen Verlag schickt. Dort ist man von dem vermeintlichem Debüt ebenfalls sehr angetan. David hat ein Problem.
Martin Suter erzählt in „Lila, Lila“ davon, wie diese kleine Lüge immer größer wird. David kann nicht mehr zurück, denn Marie und er sind mittlerweile ein Paar. Also liest er in Provinzbuchhandlungen „wie ein reuiger Verbrecher“ vor kleinem Publikum und hofft, dass sein Roman bald wieder vergessen sein würde. Aber dann erscheinen die ersten Hymnen in der überregionalen Presse, und als David mit seinen „beengenden Stimmungsbildern aus den repressiven Fünfzigerjahren“ zum „vielversprechendsten Nachwuchsschriftsteller“ der Schweiz erklärt wird, passiert es. Nach einer Lesung bittet ihn ein älterer, ungepflegt wirkender Mann namens Jacky Stocker um eine Widmung: „Für Alfred Duster.“ Das ist das Pseudonym, das ursprünglich auf dem Deckblatt des Manuskripts stand. Vor David steht der Autor seines Romans. Jetzt hat er wirklich ein Problem.
„Lila, Lila“ gleicht in mancherlei Hinsicht den Romanen Patricia Highsmith’ – einer Autorin, die sich meisterlich darauf verstand, mit sparsamsten Mitteln das Gefüge der vielen Unwahrheiten zu beschreiben, das die Gesellschaft im Innersten zusammenhält. Die Abgründe jedoch, die sich darunter verbergen und denen auch Martin Suter in seinen früheren Romanen nachgespürt hat, sucht man in „Lila, Lila“ vergeblich: Die verzweifelte Tat, die David aus der Zwickmühle zwischen Maries liebevollem Ehrgeiz und Jackys Erpressungsversuchen befreien könnte, bleibt nur ein folgenloses Gedankenspiel.
Stattdessen bemüht Suter einige literarische Tricks aus dem Repertoire des – duster, duster – Schauerromans. Da ist das „quietschende Geräusch“ der Schublade, in dem David den „Stoß vergilbter Seiten“ entdeckt, das Manuskript löst ein „unbehagliches Gefühl“ aus, und nicht zuletzt beobachtet ein geheimnisvoller Mann mit einer Zigarette David auf Seite 112 beim Vernichten des Originals – nur um anschließend nie wieder aufzutauchen.
Doch all das kann nicht verhindern, dass man gerne weiterliest und sich von Suters einfachen, beinahe altmodisch anmutenden Sätzen in eine Liebesgeschichte hineinziehen lässt, die ganz lebensnah einen eher trübsinnigen als traurigen Verlauf nimmt. Und darüber hinaus ist „Lila, Lila“ eben auch ein feinsinniger Roman über den Literaturbetrieb. Gekonnt parodiert der ehemalige Werbetexter Martin Suter nicht nur die leeren Versprechungen der Klappentexte, sondern auch die vertrauten Floskeln der Rezensenten, die David „Dringlichkeit“ und „emotionale Glaubwürdigkeit“ bescheinigen und in einem opportunistischen Stoßseufzer das literarische Ende der „Konsumwelt und ihrer Affirmation“ beschwören. Sehr schön ist auch Davids vermeintlich engagierter Kleinverlag beschrieben, der bis zu seinem jüngsten Erfolg vor allem von seinem guten Ruf und den öffentlichen Zuschüssen für die Übersetzung litauischer Erzählbände gelebt hat. Wenn sich dann der von Alkohol und langen Jahren im Männerwohnheim angegriffene Jacky Stocker zu Davids Agenten befördert, fühlen wir uns aufs Schönste in all unseren Vorurteilen bestätigt, die wir ohnehin bereits gegenüber dem Literaturbetrieb hatten. Nach einigen ausgedehnten Geschäftsessen gelingt es Jacky sogar, Davids zweiten Roman für recht anständige 220.000 Euro Vorschuss zu verkaufen: „Ohne Manuskripteinsicht. Mit zwei, drei Seiten Exposé.“
Natürlich ist von diesem Nachfolgewerk noch kein Wort zu Papier gebracht worden, und die Chancen, dass sich das bis zum Abgabetermin ändern wird, stehen eher schlecht. Aber auch der Literaturbetrieb braucht eben seine kleinen Lügen.
Martin Suter: „Lila, Lila“. Diogenes Verlag, Zürich 2004, 345 Seiten, 21,90 Euro
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