Der Dichter und der Altpräsident

In der Akademie der Künste parlierte Christoph Hein mit Richard von Weizsäcker über seinen neuen Roman

Der Abend hatte etwas von einem Staatsempfang. Vor siebenhundert Gästen stellte Christoph Hein am Donnerstagabend in der restlos ausverkauften Akademie der Künste seinen neuen Roman „Landnahme“ vor.

Nach kurzer Begrüßung durch Adolf Muschg, den Akademiepräsidenten, führte Ulla Unseld-Berkéwicz in den Abend ein und nutzte die Gelegenheit, noch einmal darauf hinzuweisen, was für eine große Verlegerpersönlichkeit ihr verstorbener Mann Siegfried gewesen war. Sie betonte, wie richtig und wichtig es sei, dass Christoph Hein jetzt endlich bei Suhrkamp angekommen sei, nachdem – kurzer Seitenhieb auf den Effenberg-Verleger Lunkewitz – „sein alter DDR-Verlag nicht mehr sein Verlag sein konnte“. Im Übrigen handele es sich bei Christoph Heins neuem Werk, so Unseld-Berkéwicz in pathetischer Deklamation, um einen „großen politischen Roman“ über Unterdrückung und gegen die ganzen Spießer da draußen, gegen die Besitzstandswahrnehmer, Fremdenfeinde und Asylablehner im Lande.

Dafür gab es einen Handkuss von Christoph Hein, der – angesichts seines bevorstehenden 60. Geburtstags im schwarzen Konfirmandenanzug mit Fliege fast eine jugendliche Erscheinung – im Anschluss aus „Landnahme“ las. Der Roman erzählt die Erfolgsgeschichte des Vertriebenen Bernhard Haber, der es in einer sächsischen Kleinstadt vom verhassten Aussiedlerkind zum erfolgreichen Unternehmer bringt. Das Ganze wird von fünf Wegbegleitern aus Habers Leben erzählt: Klassische Rollenprosa, die sich zum Vortragen fast noch besser eignet als zum Selbstlesen. Hein liest drei Passagen aus Habers Leben, dessen wirtschaftskriminalistischer Plot ein wenig an alte „Polizeiruf 110“-Folgen erinnert und der nicht ganz frei von Altherren-Erotik ist. Die meisten Lacher erntet eine Episode, in der Haber von seiner jugendlichen Schwägerin in spe verführt wird: „Wie gefallen dir meine Titten?“

„Sie sind grandios!“, lobt Richard von Weizsäcker im anschließenden Gespräch den Autor des Abends. „Landnahme“ – kleine Contradictio Richtung Vorrednerin – sei natürlich kein politischer Roman, „zum Glück!“ Dafür schildere das Buch aber mit großem Gespür fürs allgemein Menschliche, wie das Kleinbürgertum fernab aller Politik ein Alltagsleben nach seinen Gesetzen – also kleine Marktwirtschaft hüben wie drüben – führe. Frei von allen literaturwissenschaftlichen Skrupeln hakte der begeisterte Leser von Weizsäcker dann nach.

Von Christoph Hein, der sich sonst stets in seine noch zu DDR-Zeiten vor der Zensur eingeübte Rolle als „Chronist ohne Botschaft“ flüchtet, presste er das Geständnis ab, dass dem Autor seine wortkarge Hauptfigur doch sympathisch bis identisch sei – „oder etwa nicht!?“ Dass der Romantitel „Landnahme“ ursprünglich ein militärischer Terminus sei, den Hein in Anlehnung an Brecht und Tolstoi („Wie viel Erde braucht der Mensch?“) auf das ganze Leben angewendet sehen möchte, das wusste der Altpräsident – „dabei war ich doch länger Soldat als Sie!“ – bei seiner mit Verve vorgetragenen Dichternahme allerdings nicht.

ANDREAS MERKEL