Freispruch für den Messerstecher

Der deutsche Rentner, der den türkischen HipHopper Maxim erstach, geht straffrei aus. Für das Gericht war es Notwehr. Tumulte bei der Urteilsverkündung. Angehörige des Opfers sind wütend

VON PLUTONIA PLARRE

Die erste Reaktion war ein ungläubiges Raunen. Als die Vorsitzende Richterin Gabriele Strobel die Urteilsbegründung mit dem entscheidenden Satz begann: „Freispruch für den 76-jährigen Rentner Werner P. aus Köpenick“, der den 33-jährigen HipHopper Attila Aydin, genannt Maxim, mit einem Springmesser getötet hatte. Doch dann brach sich auf den voll besetzten Zuschauerbänken, auf denen die Freunde und die Schwester des Toten saßen, laute Empörung Bahn. „Das ist keine Gerechtigkeit, das war Mord“, rief einer. „Du bist sowieso am Ende, Alter“, rief ein anderer in Richtung des weißhaarigen Angeklagten, der mit gefalteten Händen neben seiner Verteidigerin saß.

„Das ist ein Fall, über den man geteilter Meinung sein kann, aber ich erwarte trotzdem Respekt“, verwahrte sich Strobel gegen die Entgleisungen. Dann begründete sie den Freispruch mit vermeintlicher Notwehr. Selten in ihrer langjährigen Praxis, so Strobel, sei ihr der Tod eines Menschen so furchtbar sinnlos erschienen. Eine Kette von Missverständnissen und Fehlverhalten habe am 13. Juni 2003 in Köpenick ihren Lauf genommen.

Der Ablauf der Ereignisse hat sich aus Sicht der Kammer so dargestellt: Attila und ein Freund waren losgezogen, um den Rentner „zur Rede zu stellen“. Hintergrund war, dass Attilas deutsche Freundin von dem Mann, den sie als „60-jährigen braun gebrannten Möchtegernplayboy“ beschrieb, sich zuvor in einem Supermarkt zu Unrecht des Ladendiebstahls bezichtigt gefühlt hatte. Als der Rentner auf Attilas Zuruf, „Hallo“, nicht reagierte, habe der junge Mann den Alten vorn an den Kleidern gepackt und „mit barschem Gesichtsausdruck auf ihn eingeredet“. Das hatte ein unbeteiligter Zeuge beobachtet. P. zog daraufhin sein Messer und stach mit einer fließenden Bewegung ohne innezuhalten zu. Der Stich ging „mitten ins Herz“. Dass P. vorher auf sein Messer hingewiesen haben will, glaubte ihm die Kammer nicht.

Auch wenn Attila den Rentner nicht angegriffen habe, habe dieser aufgrund seines hohen Alters von einer „vermeintlichen Angriffssituation“ ausgehen können, so die Richterin. In diesem Fall sei „eine Verteidigung erlaubt“. Auch wegen fahrlässiger Tötung sei der Mann wegen seines Alters nicht zu verurteilen gewesen. Schließlich sei P. zu 60 Prozent hörbehindert und habe vom Zweiten Weltkrieg über die DDR-Zeit bis hin zur Wende und danach viel durchgemacht. Die Richterin spielte damit auf die Aussage des Angeklagten und dessen Ehefrau an, wonach beide mit den chaotischen Verhältnissen nach der Wende nicht klargekommen seien.

Zu dem Springmesser, das eigentlich den Tatbestand des unbefugten Waffenbesitzes erfüllen müsste, sagte die Richterin nur: Der Mann „kam aus seinem Garten und hatte es zufällig in der Tasche“. „Darf ich das das nächste Mal auch so machen?“, schallte es aus dem Zuschauerraum empört. „Der Tote ist ja nur ein Ausländer gewesen.“ Nein, mit Ausländerfeindlichkeit habe das Ganze nichts zu tun, erwiderte Strobel. Das Urteil bedeute auch keinen Freibrief. Wäre der Täter ein 25-jähriger Mann gewesen, „hätte sich die Situation für uns vermutlich ganz anders dargestellt“.

Vor dem Saal kochten die Emotionen erst richtig hoch. Auch Attilas Vater Memet Aydin ist sich sicher, dass der Prozess so ausging, weil sein Sohn „nur ein Türke ist“. Junge Migranten aus der HipHop-Szene fragten provokativ: „Soll ich jetzt warten, bis mich irgend so ein Opa umbringt, mit dem ich Stress habe?“ Zwei deutsche Familienväter pflichteten ihnen bei. „Der Freispruch ist Aufforderung zur Selbstjustiz.“