„Ich bin noch Pfarrer“

Jürgen Fliege hatte sie alle: Menschen (9.829), Hunde (218), Ratten (14), Skorpione (3), eine Albino-Rabenkrähe und viel mehr: Im taz-Gespräch zieht er nach genau zehn Jahren „Fliege“ (ARD) Bilanz

INTERVIEW JAN FREITAG

taz: Herr Fliege, lassen Sie uns über Aggressivität sprechen.

Jürgen Fliege: Sehr gern.

Ist das eine Wesenseigenschaft, mit der Sie sich beschäftigen?

Ja sicher, weil ich es selbst bin.

In Ihrer Sendung sind Sie der Inbegriff nichtaggressiven Verhaltens.

Nein, und alle meine Mitarbeiter stöhnen darunter. Es gibt ein Zimmer, in dem wir unsere Briefings abhalten – es heißt auch „die Schlachtbank“. Weil ich anspruchsvoll bin und dabei manchmal eben auch ungerecht. Dann schreie ich. Darin liegt meine Aggressivität.

Das heißt, Sie müssen eine Art Schalter umlegen, bevor Sie ins Studio gehen?

Auf jedem Fall. Hauptsache, ich bin meine Wut los. Dann kann ich völlig normal ins Rennen gehen. Das ist aber insofern legitim, als jeder Ortspfarrer von jetzt auf gleich Stimmungslagen ändern muss. Das ist Showbusiness.

Seelsorge ist Showbiz?

Was macht denn ein Dorfpfarrer, der am Tag eine Beerdigung und eine Hochzeit führen, dann eine Finanzfrage klären muss? Er muss in einer Situation das Fest des Lebens feiern und in der anderen heulend auf dem Friedhof erscheinen. Wie macht der das? Das macht der wie jeder gute Schauspieler: Er muss die Stelle in seiner Seele raussuchen, die trauert oder die sich freut.

Eine Talkshow ist also wie ein Tag im Pfarramt?

Genau. Ich gehe mit einem ähnlichen Programm auf die Leute zu. Ich lade keinen ein, bei dem ich das Gefühl habe, es tut ihm nicht gut, er ist dem Fernsehmedium nicht gewachsen, er wird durch den Kakao gezogen, wenn er nach Hause kommt.

Und wenn er schon eingeladen ist?

Dann tritt er nicht auf. Es geht ja für beide darum, das Gesicht zu wahren. Einmal in der Sendung „Ich bin ein Kurschatten“ hat ein Gast so was von gedröhnt, wie potent er ist. Ich habe ihn gebeten, das in der Sendung nicht zu machen. Er fing trotzdem damit an. Worauf ich nur sagte: Wissen Sie, in meiner Heimat gibt’s einen Spruch, der heißt: Ein guter Hahn wird niemals fett. Sie wiegen zwei Zentner.

Das ist ja auch eine Form verbaler Aggressivität. Kommt man damit besser an den Kern der Dinge, wie es etwa Michel Friedman macht?

Nein, ich arbeite mit dem umgekehrten Rezept: Ich brauche dich nicht anzugreifen. Wie käme ich dazu – du hast dein Leben gelebt und ich meines. Kann ich von deinem Leben etwas bekommen, was spannend ist für meines? Erzähl mal!

Dieses Richten – du gut, ich böse, oder umgekehrt – halte ich als Gesprächsansatz für unmöglich. Es drängt das Gegenüber sofort in eine Verteidigungshaltung. Und wer sich verteidigt, sitzt fest.

Auf Ihrer Homepage steht: „Ich breche nicht in die Seelen ein wie ein Dieb in der Nacht.“ So gesehen ist Michel Friedman ein Einbrecher.

So gesehen, ja.

Respektieren Sie denn die Art, wie er es macht?

Nein, sie ist falsch. Für jeden Moderator gilt eben: Je höher das Ross, desto tiefer der Fall.

Sind Sie auf Ihrem Ross denn eher der Seelsorger oder der Talkmaster?

Ich bin als Pfarrer angetreten und glaube, dass ich das immer noch bin. Nur das Medium, die Kanzel, hat sich verändert. Sie ist nicht mehr aus Marmor, sondern aus Elektronik. Die Probleme sind aber gleich geblieben. Aber sonst: Ich bin ich.

Auch in der Kirche?

Auch in der Kirche. Wenn Sie mich dort sehen – wie kürzlich in Potsdam –, dann sitze ich da, wie ich jetzt hier sitze. Ich trete auch nicht mit Manuskript an, lese nichts ab.

Wird in der Kirche mittlerweile diskutiert?

Nein, das wäre auch falsch. Für die Kirche gilt der Satz: Don’t argue, listen! Was heute gelernt werden muss, ist nicht diskutieren, sondern die Grundübung aller Indianer: lauschen.

Ist das Ihre Stärke?

Ich bin von Haus aus eher ein Macher und deswegen auch eher ein Antworter. Dass ich Ruhe bewahren kann über eine längere Zeit, das habe ich erst gelernt. Ich konnte als Student mit Reden schon Massen in Bewegung setzen, das kann ich heute noch. Aber dass ich zuhören kann und einsteigen in die Seele des Menschen, wusste ich 1994 noch nicht.

Gibt es Tabuthemen, die Sie sich selbst in Ihrer Sendung überhaupt nicht vorstellen können?

Jedes Thema ist erlaubt. Die Frage ist, wie: mit wie viel Voyeurismus, Engagement, Ernsthaftigkeit. Gehört nicht das ganze Leben zu Gottes Schöpfung? Warum sollte ich da etwas ausklammern, was er einklammert.

Gibt es Themen, die Ihnen Angst machen?

Überhaupt nicht. Aber im Rahmen einer öffentlich-rechtlichen Sendung um 16 Uhr gehen gewisse Themen nicht. Zum Beispiel, wie heißt es so schön: Kinderficker. Das geht nicht. Wiewohl das ein spannendes Thema ist. Wie gehen wir damit um?

Nimmt der Bayerische Rundfunk Einfluss auf Ihre Themen?

Ja. Das finde ich auch richtig. Ich bin doch nicht der liebe Gott. Ich brauche Leute, die sagen: Geht nicht oder geht doch. Dann muss ich Argumente bringen. Muss es sein, dass in einer Sendung über Midlife-Crisis eine Nutte erzählt, dass Männer jenseits der 45 eitler sind als vor 45? Ja, das muss sein! Sie sind die Einzigen, die Ahnung davon haben. Sie können sich vorstellen, dass der Fernsehdirektor davon nicht begeistert ist.

Auch nicht alle am Bildschirm.

„Sex sells“ gilt nicht für Fliege. Wenn der Pfarrer zu ihnen kommt, wollen sie ja auch erst mal nicht über Sexualität reden. Anders gesagt: Fliege bringt den Playboy nicht mit. Er blättert nur drin rum, wenn er da liegt.

Wird der evangelische Talkmaster Fliege in katholischen Gegenden wie Bayern weniger akzeptiert als in protestantischen?

Im Gegenteil. Wir haben eher ein Süd-Nord-Gefälle und eins von West nach Ost. Aber ich empfinde mich auch nicht unbedingt als evangelischer Seelsorger. Eher als Theologe.

Und als Frauenversteher – bei 70 Prozent weiblicher Sehbeteiligung?

Na, das hoffe ich doch sehr. Solange mich die Männer verstehen. Frauen interessieren sich eben mehr für meine Themen: Beziehungen und Heilarbeit. Männer dagegen für Macht und Geld.