Marokkos Erdbebenopfer begehren auf

Im Katastrophengebiet warten die Menschen vergebens auf Spenden und Hilfsgüter. Regierung spielt Unmut der Bevölkerung herunter und spricht von ausländischer Propaganda. Monarch meidet bisher Erdbebengebiet

MADRID taz ■ Die Menschen im nordmarokkanischen Erdbebengebiet rund um die Stadt Alhucemas fühlen sich vernachlässigt. „Die Regierung, alles Diebe“ und „Die marokkanische Regierung: eine Null“, rufen seit Tagen die Menschen auf spontanen Demonstrationen. Am Donnerstag kam es zu ersten heftigen Auseinandersetzungen mit der Polizei und der Armee, als über 1.000 aufgebrachte Erdbebenopfer vor das Haus des Zivilgouverneurs in Alhucemas zogen. Wenig später plünderten Jugendliche einen Hilfskonvoi.

„Wir sehen im Fernsehen, was alles vom Ausland geschickt wird, aber hier kommt nichts an“, heißt eine der Erklärungen, die die Demonstrierenden immer wieder vor Fernsehkameras abgeben. Sie vermuten, dass viele Spenden in dunklen Kanälen verschwinden. Neben Alhucemas kam es auch in den Imzuren, dem am schlimmsten vom Erdbeben betroffenen Ort zu Demonstrationen.

Im staatlichen marokkanischen Fernsehen, das am Dienstag zwölf Stunden brauchte, bis es erste Bilder aus Alhucemas zeigte, wurden die Demonstrationen verschwiegen. Für Regierungssprecher Nabil Benabdallah sind die ausländischen Berichte über den Unmut der Bevölkerung „reine Propaganda“. Er lässt im Fernsehen Bilder verbreiten, die beweisen sollen, dass es vor Ort an nichts fehlt. Mehrere marokkanische Tageszeitungen forderten deshalb gestern seinen Rücktritt.

Auch König Mohamed VI. ließ sich bisher vor Ort nicht blicken. Zwar war er am Dienstag, nur wenige Stunden nach den verheerenden Erdstößen nach Tanger gereist. Doch bis zum Redaktionsschluss dieser Ausgabe hatte er den Besuch im 330 Kilometer von Tanger entfernten Alhucemas mehrmals „aus Sicherheitsgründen“ verschoben.

„Sie vernachlässigen uns, weil wir keine Araber sind“, sind sich die Demonstranten in Alhucemas sicher. Im Rif wird Tamazight, die Berbersprache, gesprochen. Die Bewohner des unwegsamen Küstengebirges sind rebellisch. Sie lehnten sich immer wieder gegen die Besatzer – egal ob in den 20er-Jahren gegen die Kolonialmacht Spanien oder in den späten 50ern gegen das unabhängige Marokko – auf. In Rabat wurde ihnen das nie verziehen. König Hassan II. besuchte die Nordregion nie. Er ließ das Rif wirtschaftlich ausbluten, um sich so für den Aufstand gegen seinen Vater Mohamed V. zu rächen. Nach Hassans Tod 1999 schien es so, als würde sich die Lage der Berber verbessern. Thronfolger Mohamed VI. besuchte die Stadt Tanger und erlaubte die Einrichtung eines Königlichen Instituts für Berberkultur. Mit der Fehlorganisation bei der Erdbebenhilfe verspielt der junge Monarch jetzt das mühsam aufgebaute Ansehen.

REINER WANDLER