In Bingöl schlägt Trauer in Wut um

Im türkischen Erdbebengebiet liefern sich tausende Einwohner Straßenschlachten mit der Polizei. Empörung über mangelnde Hilfslieferungen und vermuteten Pfusch beim Bau der eingestürzten Schule. Kaum noch Hoffnung auf überlebende Kinder

ISTANBUL taz ■ Einen Tag nach dem schweren Erdbeben in der Türkei haben tausende Menschen mit gewaltsamen Protesten ihrer Wut über die ihrer Ansicht nach mangelnde Hilfe der Behörden Luft gemacht. Eine Demonstration vor dem Sitz des Provinzgouverneurs in der südosttürkischen Provinzhauptstadt Bingöl schlug am Morgen in heftige Straßenschlachten um, nachdem ein Polizeiwagen in die aufgebrachte Menge gefahren war und zwei Demonstranten verletzt hatte. Die rund 4.000 Bewohner der Stadt, die sich auf dem zentralen Platz vor dem Gebäude des Gouverneurs versammelt hatten, beklagten, dass es zu wenige Zelte und keine Versorgung mit Essen gebe. Während Offizielle die Menge zu beruhigen versuchten, prasselten erste Steine auf Polizeiautos und umliegende Häuser. Als die Polizei und herbeigeschaffte Gendarmerieeinheiten daraufhin minutenlang in die Luft schossen, eskalierte der Konflikt. Menschen warfen sich aus Angst vor den Schüssen auf den Boden und wurden brutal vom Platz gezerrt, während an anderen Stellen die Polizei von einem Steinhagel zurückgetrieben wurde.

Die Stimmung in und um Bingöl ist seit langem schon sehr angespannt. Die nördlich von Diyarbakir gelegene Stadt ist ein Zentrum der kurdischen Aufstandsbewegung. Die Gegend zwischen Bingöl und Tunceli gehört bis jetzt zu den letzten Regionen, in denen es immer noch zu bewaffneten Zusammenstößen zwischen kurdischer Guerilla und der Armee kommt. Hier hatten sich auch jene PKK’ler verschanzt, die sich vor drei Jahren vom Waffenstillstand distanziert hatten, den PKK-Führer Abdullah Öcalan damals vom Gefängnis aus verkündet hatte.

Auslöser für den jetzigen Aufruhr war vermutlich weniger die mangelnde Versorgung als vielmehr die Wut über den Zusammenbruch der Internatsschule bei Bingöl, in der immer noch 73 Kinder unter den Trümmern begraben liegen, obwohl die ganze Nacht fieberhaft gearbeitet wurde. Von den insgesamt 198 Kindern wurden bislang 80 gerettet, 35 konnten nur noch tot geborgen werden. Die Bewohner aus Bingöl und Umgebung, von wo die Kinder stammen, machen den türkischen Staat für den schlampigen Bau verantwortlich und gehen davon aus, dass gerade in den mehrheitlich kurdischen Gebieten beim Bau gepfuscht wurde.

Ministerpräsident Tayyip Erdogan sprach auf einer eilig anberaumten Pressekonferenz in Ankara dagegen von Provokateuren, die die Menge aufgewiegelt hätten. Er betonte, dass über zweitausend Zelte vom Roten Halbmond geliefert worden seien. Die Verantwortlichen für die mangelhafte Bauausführung der Schule und anderer öffentlicher Gebäude würden zur Verantwortung gezogen. Als Erster wurde der Polizeipräsident von Bingöl gefeuert. JÜRGEN GOTTSCHLICH