Fritzi Furiosa

Grotesk, grausig, grandios: Mit Michael Thalheimers „Lulu“ am Thalia Theater markiert Fritzi Haberlandt, die „eckige Kleene“, den bisherigen Höhepunkt ihrer Schauspielkarriere

von Carolin Ströbele

Als Fritzi Haberlandt wie beiläufig auf die Bühne schlendert, erstirbt augenblicklich jedes Gespräch im Zuschauerraum. Innerhalb von zehn Sekunden ist klar: Sie kann es, sie ist es: Lulu.

Mit der Verkörperung dieser Rolle ist die Schauspielerin wohl die größte Herausforderung ihrer Karriere eingegangen. Sie, die Spröde, die „eckige Kleene“ mit der Berliner Schnauze als der personifizierte Begriff der Weiblichkeit? Viele hatten da im Vornherein nur ungläubig den Kopf geschüttelt.

Doch Fritzi Haberlandt lässt die Figur der Lulu Fleisch werden. Sie springt die Männer an und wehrt sie gleichzeitig mit Leibeskräften ab, sie verbiegt sich wie eine Gummipuppe, ist schüchtern, resigniert, kindisch und uralt zugleich. Sie gibt der Lulu all ihre Körperlichkeit und verleiht ihr genau dadurch eine Seele.

Es gibt wohl wenig Rollen, die so schwer zu interpretieren sind wie diese. Männerzerstörerin oder von Männern Zerstörte, verdorbene Hure oder unschuldiges Kind? Man kann diese Figur nicht auf eine Eigenschaft reduzieren, sie ist alles und nichts, sie ist ein Spiegel dessen, was die Männer in ihr sehen wollen.

So sieht auch Michael Thalheimer seine Lulu: als Projektionsfläche ihrer Umwelt. Dieser Ansatz ist nicht neu, aber er ist selten so konsequent und schlüssig umgesetzt worden wie in seiner Inszenierung.

Thalheimer hat mit diesem Stück ein schweres Erbe in Hamburg angetreten: In vielen Köpfen ist immer noch Peter Zadeks legendäre Schauspielhaus-Inszenierung mit Susanne Lothar in der Titelrolle. Der Regisseur hat sich davon nicht irritieren lassen: Wie bei seinem Woyzeck reduziert er auch diesmal das Stück auf seinen Kern. Er inszeniert die Lulu als Konversationsstück, befreit sie aber gleichzeitig von aller Geschwätzigkeit.

In Zadeks Inszenierung war Lulu nackt, bei Thalheimer sind es die Männer. Ständig reißen sie sich die Hosen runter, zum Akt der Vereinigung kommt es trotzdem nie: im letzen Moment ergreifen die Männer die Flucht. „Mir fehlt der rechte Mut zum Lieben“, sagt der Maler Schwarz zu Lulu und spiegelt damit das Problem seiner ganzen Generation wider. Den einzigen Moment wahrer Zärtlichkeit gibt es, als Doktor Schöning, der einzige Mann, den Lulu liebt, für einen kurzen Moment ihre Nähe zulässt und seinen Kopf an ihre Schulter lehnt. In der Hand hält er jedoch schon den Revolver, durch den er sterben wird.

Wedekinds Stück wird wohl immer aktuell bleiben, weil es das Verhältnis von Mann und Frau stets neu in Bezug zur gesellschaftlichen Situation definiert. Bei ihrer Entstehung war Lulu ein männermordendes Teufelsweib, bei Zadek die missbrauchte Unschuld, und bei Thalheimer können einem schon fast wieder die Männer leid tun.

Seine Lulu ist grotesk, witzig, schauderhaft und verstörend zugleich. Dem Zuschauer wird keine Pause gegönnt, die einzelnen Akte sind nur durch harte Gitarrenschläge unterbrochen. Sonst gibt es keine Ablenkung. Kein Bühnenbild, nur eine weiße Wand, die von Akt zu Akt näher an den Publikumsraum heranfährt. Mit aller Wucht rückt Thalheimer seinen Zuschauern auf den Leib. So sehr, dass am Ende betroffenes Schweigen herrscht. Die Kraft reicht nur noch zum zaghaften Applaus. Dabei hätte gerade diese Aufführung Standing Ovations verdient.

9. + 10. März, 20 Uhr, Thalia Theater