Das Raumschiff fliegt

Knutschen mit Kirschblumenmädchen: Das Duo Air trat in der Columbiahalle auf – als Mittler zwischen den Geschlechtern, den Chromosomen, zwischen was du willst. Hallo, Flötentöne. Nur zynische Seelen nennen so etwas Produktpräsentation

VON HENNING KOBER

Schon gewusst? Amerikanische Mädchen lieben Sex zur Musik von Air. Stimmt wirklich. Überhaupt soll Sex zwischen Mädchen und Jungen ganz gut funktionieren, wenn dazu Air läuft.

Beweise? Freitagabend, Columbiahalle, Air-Konzert. Auf der Bühne stehen Nicolas Godin und Jean Benoit Dunckel und flachsen ihre drei Brocken Deutsch ins Publikum. „Isch liebe disch“ und „Koam, schlafe mit miar“. Super süßer französischer Akzent, vor allem aber: richtige Reihefolge. Kleine Erinnerung. Nicht dass die Jungs da unten jetzt noch einen Fehler machen. Dann verkleiden die Scheinwerfer das Auge mit einem gedämpftem Rot. Aus den Boxen fließt „Cherry Blossom Girl“, die aktuelle Air-Single. Flötentöne. Sanfte Wellen bewegen sich durch die Menge. Arme und Körper springen nicht, schmiegen sich nur leicht aneinander. Zu Air wird nicht getanzt, auf die Ektase des Clubs sind die beiden Franzosen laut aktueller Interviewauskünfte auch nicht mehr gut zu sprechen. Im French-House-TGV seien sie nur schwarzgefahren, verkünden sie selbstbewusst, heute schmieren sie böse Graffiti an den lahm gewordenen Schnellzug. Schweißverklebtes, große Pupillen und andere Clubglücksmomente empfinden sie mittlerweile als flegelhafte Ignoranz gegenüber ihrer Pop-Klangkunst.

Konsequenterweise dürften sie also gar kein Konzert geben, denn ein solches zeichnet sich ja zumindest an Orten des Pop und Rock traditionsgemäß durch extrem langes Warten und extreme Beeinträchtigung der persönlichen Freiheit aus, dem dann umso extremerer körperlicher Entladung folgt, stehen die Stars endlich auf der Bühne. Ein Air-Konzert aber steuert auf den emotionalen Abgang. Lider schließen, vom Kirschblumenmädchen träumen oder, wenn es neben dir steht, endlich küssen. Nirgendwo muss ein Junge so wenig Angst vor Mädchenfehlern haben wie hier. Air sind Mittler zwischen den Chromosomen. Denn, dazu braucht es keine Wahrsagerin, stehen Mädchen genauso wie Jungs auf wilden, harten Kristallsex. Nur geht das nicht so schnell und selbstverständlich wie mit dir, Junge.

Die Meinungen über das neue Album „Talkie Walkie“, dessen Werke an diesem Abend der meiste Klang gehört, schneiden sich. Sie schneiden sich genau am Vorgänger „10 000 Hz Legend“. Wer das zu verstörend und unhörbar fand, dreht sich jetzt freudestrahlend unter dem aktuell blauen Lichtnebel einmal im Kreis und erinnert sich bei „Alone in Kyoto“ an dieses sehr, sehr schöne Bild von der sehr, sehr schönen Scarlett Johansson aus „Lost in Translation“, die sehnsüchtig vor dem Wunschbaum in Kioto steht. Wer mit dicken Kopfhörern und einem Master-Joint in den Dünen von Biarritz lag, sich „Sex Born Poison“ in die Ohren jagte und die Struktur seines Gehirnnetzes zu glauben sah, wird nur müde lächeln über neue Tracks wie das freudig illusionistische „Surfin’ On A Rocket“.

Nach der ernsthaften Heroin- Radikalität von „10 000 Hz Legend“ klingt der Titel „Alpha Beta Gaga“ wie das Gepfeife eines nicht mehr ganz kleinen Jungen, der versehentlich mit der Nadel gespielt hat und jetzt die Bilder der Nacht mit von Muttern gestärkter frischer Unterwäsche verdrängt. Die Enttäuschten sehen in „Talkie Walkie“ ein konterrevolutionäres Werk, für das auch Produzent Nigel Godrich verantwortlich ist, der sich mit Arbeiten für Radiohead und Beck Ruhm erarbeitet hat, im letzten Jahr aber von den Strokes nicht ganz fein gefeuert wurde.

Der Spiritualität des Abends tut diese Kontroverse unter den Air-Anhängern jedoch nichts an. Zu gut harmonieren die heftig konsumierten sanften Rauchwaren, das Bild der bis ins Letzte mit Menschen gefüllten Halle, deren Nerven in diesem Moment ähnlich kitzeln, und der durchgetüftelte Popklang. „Our tracks are like dreams, we want to escape from reality“, dieser Grundsatz gilt noch immer. Das Raumschiff fliegt. Einzig der brave, später frenetische Applaus nach jeder Nummer schreckt die Massentrance im Planetarium kurzzeitig.

Godin und Dunckel interessiert das alles nicht. Sie geben routiniert ihren Liebling, den Dandy. Beide in schwarze Stoffhosen und schwarze Hemden gekleidet. Darüber eine schwarze Krawatte. Nur Godins Ballonmütze, unter der sich sein länger gewordenes Haar hervorstreckt, zerstört das Zwillingsbild. Sie konzentrieren sich auf den perfekten Vortrag, den jetzt – also bitte! – nur eine zynische Seele „Produktpräsentation“ nennen könnte. Denn humorlos sind sie nicht; aus der Box, in der die fünf verschiedenen Gitarren für JB Dunckel aufbewahrt werden, hängt eine kleine, handgemalte Englandfahne.