Aufstand der Zwerge

Den Linken in der SPD fehlt ein Anführer, der die Massen bewegt, und ein modernes Gegenprogramm zu Schröders Reformen
aus Berlin JENS KÖNIG

In der Bild-Zeitung hatte Ottmar Schreiner in der vorigen Woche eine halbe Seite. „Wer ist der mutige Rebell gegen den Kanzler?“, schrieb das Boulevardblatt in großen Buchstaben. Gute Frage. Wer ist Ottmar Schreiner?

Damit ist das Problem der Linken in der SPD schon zur Hälfte beschrieben. Ottmar Schreiner ist der parteiinterne Anführer des Widerstands gegen die Reformagenda 2010, aber keiner kennt ihn. Auf der Regionalkonferenz der SPD vorige Woche in Bonn hielt Schreiner eine kurze, von der Basis umjubelte Brandrede gegen Schröders Programm. Er hat einfach nur gesagt, was man alles nicht machen dürfe: das Krankengeld privatisieren, das Arbeitslosengeld kürzen, die Rente erst ab 67 auszahlen.

Seitdem ist Schreiner überall. Talkshow bei Illner, Interview bei Friedman, großes Porträt in der FAZ, heute eine Geschichte im Spiegel. Die Medien tun so, als hätte Schröder jetzt einen Konkurrenten vom linken Parteiflügel. So eine Art Lafontaine II., nur trauriger. Es könnte so schön sein. Schreiner kommt auch aus dem Saarland, und er ist ein alter Linker. Aber sonst?

Kein Mensch außerhalb der SPD weiß, dass Schreiner Vorsitzender der AfA ist, und erst recht keiner weiß, dass die AfA die „Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen“ ist. Kaum einer kann sich daran erinnern, dass Schreiner unter Lafontaine dessen Bundesgeschäftsführer war. Und man muss schon lange in den Archiven wühlen, um herauszufinden, dass Schreiner vor 25 Jahren den Kampf um den Juso-Vorsitz gegen einen gewissen Gerhard Schröder verlor. Aber plötzlich sieht es so aus, als kämpfe Schreiner mit Schröder wieder in der gleichen Gewichtsklasse. Der einfache Abgeordnete gegen den mächtigen Kanzler.

Aber Schreiner ist nicht Lafontaine. Schreiner geht es wie dem gesamten linken Flügel der SPD. Er wirkt im Moment stärker und größer, als er in Wirklichkeit ist. Nur weil Schröder ihm nicht zuhört, jubelt die Partei einem Mann wie Schreiner zu. Er steht für ihre ohnmächtige Wut.

Die SPD-Linke kann diese Wut bestenfalls aufgreifen. Sie kann ein Mitgliederbegehren über die Reformagenda des Kanzlers in die Wege leiten (das bis jetzt allerdings nur 5.000 Unterschriften trägt, bei 670.000 SPD-Mitgliedern). Sie kann einen Sonderparteitag erzwingen, der Schröder zu kleinen Kompromissen verpflichtet. Aber die Linke kann die Wut vieler Sozialdemokraten nicht größer erscheinen lassen, als sie ist. Und sie kann erst recht kein politisches Programm darauf aufbauen. Die SPD-Linke hat keinen, der die Massen bewegt.

Sie hat nur Halbpromis wie Michael Müller, Gernot Erler, Andrea Nahles und Hermann Scheer, allesamt klüge Köpfe. Aber aus einem Grund, der tief in der sozialdemokratischen Seele versteckt sein musss, zeigen sie das am liebsten, indem sie von Zeit zu Zeit meterdicke Strategiepapiere schreiben. Müller ist ein Theoretiker. Erler ein guter Außenpolitiker. Nahles ist rhetorisch begabt, sitzt aber nicht mal im Bundestag. Scheer, der Solarpapst, ist vom amerikanischen Nachrichtenmagazin Time zu einem der fünf heroes for the green century in der Welt ernannt worden, aber in der SPD ist er ein Einzelgänger. Sie alle verbuchen es schon als Erfolg, wenn Schröder einmal weniger Basta! sagt.

Die Linken in der SPD haben Schröder nichts entgegenzusetzen, nicht machtpolitisch, aber auch nicht programmatisch. Sie haben keine die Massen begeisternde Vision und keine fesselnden Parolen. Sie werfen ihrem Parteichef vor, die Sozialsysteme nur an die wirtschaftlichen Gegebenheiten anzupassen und geißeln das als „neoliberal“. In der Freiheit, die die Sozialreformen auch mit sich bringen, sehen sie nur eine Bedrohung und keinen Gewinn. Solidarität hat in ihren Augen nur der Schwache verdient, aber wer denn heute der Schwache ist, vermögen sie nicht zu sagen: die Arbeitnehmer oder die Arbeitslosen, die Rentner oder die Jungen? Was bleibt, ist die defensive, langweilige, intellektuell dürftige Warnung vor dem Abbau des Sozialstaats. Diese wortreiche Gedankenarmut ist das Gegenstück zur Schröders autoritärer Sprachlosigkeit. Beide, die Linken wie der Parteichef, sind schuld daran, dass die SPD, programmatisch besehen, heute nur noch ein dünn besiedeltes Gebiet ist.

Den Linken bei den Grünen fehlt es nicht an Analysen der ökonomischen will sie keiner
aus Münster ULRIKE HERRMANN

Die Initiatoren des grünen Sonderparteitags sind „überrascht“. Diesen Andrang hatten sie erhofft, aber nicht erwartet: Etwa 70 Mitglieder sind am Samstag nach Münster gekommen, um einen Gegenantrag zur „Agenda 2010“ zu entwerfen. Immerhin 40 der insgesamt 474 Kreisverbände sind vertreten. Als auch noch Christian Ströbele erscheint, atmen alle auf. Wenigstens einer, der bundespolitisches Gewicht hat, den auch die Außenwelt kennt. Man ist eine Minderheit, und das weiß man auch.

Ebenso wie der grüne Bundesvorstand. Er hat zwei Emissäre geschickt, wenn auch nicht gleich die Parteichefs Reinhard Bütikofer oder Angelika Beer. Das hätte die Kritiker zu stark aufgewertet. Aber der Büroleiter von Geschäftsführerin Steffi Lemke ist gekommen und Beisitzer Omid Nouripour. Seine Botschaft: „Wir nehmen euer Anliegen sehr ernst.“

Diese Diskussionsbereitschaft drückt auch aus, dass sich der Vorstand bisher nicht gefährdet fühlt. Es ist noch nicht wie bei der SPD, wo sich deutlich zu viele Mitglieder fragen, was die Genossen von der CDU unterscheidet. Die grüne Spitze hat es nicht nötig, panisch die Basis zu erpressen, wie es Kanzler Schröder mit seiner Vertrauensfrage tut.

Also Diskussion. Diese offizielle Erlaubnis zeigt auch, wie machtlos gute Argumente sein können. Denn an Analysen fehlt es den Linken nicht. So setzt Schröder ganz zentral auf die Behauptung, dass niedrigere Lohnkosten Arbeitsplätze schaffen. Der internationale Vergleich scheint jedoch das Gegenteil nahe zu legen: Lohnverzicht kann Jobs zerstören, weil er die Binnennachfrage hemmt. In Deutschland sind die Reallöhne in den letzten 20 Jahren um 17 Prozent gesunken – in den USA und in Großbritannien nur um 3 Prozent. Dennoch liegt die Arbeitslosenquote in beiden Ländern weitaus niedriger. Es ist also nicht nur ungerecht, sondern dürfte auch ökonomischer Unfug sein, bei den Arbeitslosen zu kürzen.

Doch selbst bei den Linken in Münster will nicht jeder folgen: „Aber die Wähler nehmen niedrigere Lohnnebenkosten als erhöhte Nettolöhne wahr.“ Alle seufzen, doch sie wissen, so ist es. Auch viele Grüne begreifen nicht, dass private Vorsorge nur die Arbeitgeber entlastet. Der nächste Einwand ist ebenfalls bestens bekannt: „Die Selbstständigen in der Partei stöhnen auch alle über die Sozialabgaben.“

Ein Softwarespezialist, der selbst zwanzig Jahre lang Unternehmer war, versucht nochmals zu erklären, was makroökonomisches Denken und Betriebswirtschaft unterscheidet: „Ich hätte mich auch über weniger Sozialabgaben gefreut, aber gleichzeitig geht eben die Nachfrage zurück.“ Irgendwann bricht es aus einem Zuhörer heraus: „Mir ist die Diskussion viel zu defensiv.“

Also Offensive. Eine Botschaft, die sich leichter vermitteln lässt als die Einzelkritik an den Schröder-Plänen. Und „ein heftiges Legitimationsproblem“ ist ja unübersehbar: „Wer nicht hat, wird ausführlich zur Kasse gebeten, während man die Reichen außen vor lässt.“

Aber wie thematisiert man diese „Systemumkehr“ am besten? Prompt bricht der Konflikt zwischen den komplexen Einzelpunkten und der deutlichen Botschaft wieder auf. Barbara Steffens, NRW-Landtagsabgeordnete, will eine „Globalalternative“, den großen Gegenantrag, verfassen. Sie möchte nicht mit „27 verschiedenen Änderungsanträgen“ auf dem Sonderparteitag erscheinen und im „vorauseilenden Gehorsam“ als „Bittstellerin“ auftreten. „Dann verliere ich lieber, aber ich weiß, wofür ich gekämpft habe, bevor ich aufgebe.“

Ja, so wäre es befriedigend, viele klatschen. Andere aber warnen davor, den „klassischen Fehler der Linken“ zu wiederholen: „Erst bauen wir eine Show-down-Stimmung auf, dann unterliegen wir, und am Ende gehen wir frustriert nach Hause oder treten ganz aus.“ Schließlich einigt man sich: Einer Präambel mit den „Gesamtlinien“ wird die Einzelkritik folgen.

Das wird die Agenda 2010 zwar auch nicht verhindern, „die kommt“, da waren sich alle einig. Vielleicht aber ja mit einigen Verbesserungen. „Und es war doch schon ein Erfolg, dass wir gesagt haben, dass wir dagegen sind.“ Denn die nächsten Kürzungsrunden kommen bestimmt.