DIE FLUCHT ARISTIDES LÖST KEIN EINZIGES PROBLEM
: Haiti hat nichts gewonnen

Am Freitag hatte er seine Anhänger noch aufgefordert, sie sollten ihn und sein Amt mit dem Einsatz ihres Lebens verteidigen. Zwei Tage später war ihm dies zu unsicher. Jean-Bertrand Aristide hat sein Amt verlassen und sein Leben gerettet. Die einzige Forderung der Opposition ist damit erfüllt: Der Präsident ist weg. Aus der Innensicht von Port-au-Prince kam die schnelle Flucht unerwartet. Nachdem die Bevölkerung der Hauptstadt am Freitag auf das (falsche) Gerücht, Aufständische aus dem Norden seien in die Stadt eingedrungen, mit Plünderungen reagiert hatte, war es zum Wochenende hin eher ruhiger geworden. Bewaffnete Anhänger Aristides patrouillierten durch die Straßen, und alles deutete darauf hin, dass sie den Rebellen, sollten diese den Präsidentenpalast stürmen wollen, blutigen Widerstand entgegenstellen würden. Diese letzte Schlacht hat Aristide seinem Land erspart. Mehr konnte der einstige Volksheld kaum noch tun. Er war in den vergangenen Wochen hoffnungslos einsam geworden.

Dass ein paar hundert schlecht ausgebildete Desperados im Handstreich die gesamte Nordhälfte der Republik dominieren konnten, zeigt, dass Aristide dort kaum mehr über Anhänger verfügte. Auch Port-au-Prince wäre nicht lange zu halten gewesen, sondern im Chaos untergegangen. Die Plünderungen waren ein erster Hinweis darauf. Auch das internationale Umfeld hatte sich zu Aristides Ungunsten verändert: Dominique de Villepin, Außenminister der einstigen Kolonialmacht Frankreich, hatte in den vergangenen Tagen schon fast rabiat seinen Rücktritt gefordert. Auch die USA, denen bis zuletzt ein Haiti mit Aristide lieber war als eines ohne, schwenkten auf diese Linie ein. Der Präsident konnte auf keine Ordnungsmacht mehr hoffen, die auch nur irgendwie zu seinen Gunsten in den Konflikt eingreifen würde.

Doch seine Flucht löst zunächst einmal gar nichts. Das gemeinsame Programm der politischen Opposition geht über ein „weg mit Aristide!“ nicht hinaus. Eine neue Ordnungsmacht ist nicht vorhanden. Die bewaffneten Banden im Norden konnten zwar die kaum mehr vorhandene Staatsmacht vollends vertreiben, doch sie haben das Land nicht unter Kontrolle. In den von ihnen „eingenommenen“ Städten herrscht das Chaos. Was sich seit Tagen in Gonaïves und Port Haïtien abspielt, ist nun auch für Port-au-Prince zu erwarten: Plünderungen und Lynchmorde aus Rache. Wäre die Opposition nicht so stur gewesen und hätte sich mit Aristide an einen Verhandlungstisch gesetzt, hätte dies vielleicht verhindert werden können. Doch sie wollte diesen Machtkampf unbedingt gewinnen. Haiti hat darüber – wieder einmal – verloren. TONI KEPPELER