Fluss mit Pose

Viel Form, viel Gefühl: Mit drei Ballettstücken versucht die Staatsoper zwischen Klassik und Gegenwart zu vermitteln

Transformation ist alles. „Nur wer die Sehnsucht kennt, weiß, was ich leide!“ schrieb Johann Wolfgang Goethe in einem Lied der androgynen Kindsgestalt Mignon. Franz Schubert vertonte das Lied, Mischa Maisky transkribierte es für Piano und Cello und Nacho Duato, Choreograf aus Spanien, entwickelte zu diesem und anderen Schubert-Liedern die Tänze „without words“: Die Sehnsucht der Mignon, durch alle diese Hände und Zeiten gewandert, leuchtet, als wüsste sie nichts von diesem Weg. So wenig wie die Tänzer des Ensembles, knabenhaft schlank Männer und Frauen, vom Hunger und vom Verzicht auf Leben zu wissen scheinen, den sie gezahlt haben müssen, um in diesen zarten Linien aufzugehen.

„Without words“ ist der erste Abend, mit dem der neue Ballettdirektor Vladimir Malakhov an der Staatsoper Unter den Linden einen Bogen vom russischen Ballett bis in die Gegenwart schlägt. Er spielt mit der Geschichte, in der er plötzlich einen großen Schritt zurückgeht für das „ballet imperial“ des Neoklassikers Balanchine. Das öffnet den Blick für die ungeheuer große Veränderung des Konzepts von Körper und Raum, die das Ballett seit der Mitte des 20. Jahrhunderts durchlaufen hat. Balanchines „ballett imperial“, uraufgeführt 1941 im brasilianischen Rio de Janeiro, ist eine Referenz an die Petersburger Klassik. Jede Note eines Klavierkonzerts von Peter Tschaikowsky wird mit diamantenem Glanz, sahnigen Posen und Lächeln besetzt. Die alte Kunst selbst hält hier Hof: Ballerina und Corps de ballet spiegeln keine andere Ordnung als ihre eigene. Der Raum ist vollgestellt mit Tänzerbeinen, die Damen drehen, die Herren springen, die Kronleuchter funkeln.

Von solcher Niedlichkeit ist nichts geblieben in den Stücken von Duato und Christian Spuck, dessen Choreografie „this –“ an der Staatsoper uraufgeführt wurde; obwohl er die Rollenaufteilung des Pas de deux beibehält, in der die Frauen sich in den Drehungen und Hebungen mit der Kraft ihrer Partner über die Erdanziehung hinwegmogeln dürfen. Der Fluss und die Pose, Tanzmoderne und Klassik verbinden sich hier unaufhörlich. Spuck nutzt die Tradition wie einen hocheffizienten Datenspeicher, den er für neue Operationen erschließt. Die Musik von Anton Webern und das Licht auf der Bühne aber durchbrechen die Dynamik: Inseln von Stille und Dunkelheit breiten sich zwischen den Zellen der Hochleistung aus. So gebrochen verliert sich der ideologische Ballast der Formen. KATRIN BETTINA MÜLLER

Die nächsten Aufführungen gibt es am 9. und 17. Mai, jeweils 19.30 Uhr, Staatsoper Unter den Linden