Von Schurken und Menschen

Ein deutsches Trinkgelddrama, das eigentlich leicht zu vermeiden gewesen wäre.In den Hauptrollen: ein armer Taxifahrer, eine alte Dame, ihr Pudel und ein Frosch

Die neuerdings wieder so seltsam in Mode gekommene Frage aus Kolonialzeiten, wer denn nun zur „zivilisierten Welt“ gehöre und wer nicht, beantwortet sich selbstverständlich nicht aus dem Vergleich ohnehin allesamt barbarischer Systeme, sondern einzig und allein aus Folgendem: Trinkgeld oder kein Trinkgeld? Trinkgeld zu geben, adelt den Menschen – keines zu geben, verrät ihn.

Gerade in der westlichen Welt kann sich beim besten Willen niemand mehr mit Unwissenheit herausreden. Manchmal schlägt mir in meinen Aufklärungsgesprächen doch tatsächlich noch ein überraschtes „das habe ich nicht gewusst“ entgegen – was für eine Heuchelei! Das Geben von Trinkgeld ist eine mit dem Dienstleistungswesen untrennbar und immanent verbundene Geste. Es ist hier von Prinzipien die Rede, die uralt sind und nicht nur von einem Euro mehr oder weniger für den Taxifahrer. Es handelt sich um eine soziale Pflicht, deren Unterlassung einer mittelschweren Beleidigung gleichkommt – um nichts anderes.

„Ich habe kein Geld“: Ich habe selber kein Geld. Wer kein Geld hat, um eine gewünschte Sache vollständig im Sinne von angemessen zu bezahlen, möge darauf verzichten und es später mit Hilfe des dergestalt Ersparten erneut versuchen. Bestimmt klappt es dann. Bis dahin heißt es, zu Fuß zu gehen – das regt auch die Denktätigkeit ungemein an. Junge Frauen sind, meiner persönlichen Statistik nach und übrigens vor der Gruppe der alten Männer, im Schnitt am anfälligsten für diesen groben Mangel an Stil und Verstand.

Selbst meine eigene Gefährtin, im Grunde ein herzensguter und großzügiger Mensch, pflegte die bescheuerten Argumente Armut und Unwissenheit zu kombinieren, sodass ich mich gezwungen sah, Erziehungsarbeit zu leisten, die eigentlich noch vor dem ersten Töpfchengang längst von der offenkundig nachlässig gewesenen Mutter hätte erledigt sein müssen. Vorübergehend wollte ich schier verzweifeln und fragte mich, welch Schlange mich da an ihrem Busen genährt hatte, bis in ihrem verblendeten Kopf zum Glück doch noch das humane Restempfinden gegen die bestialische Ignoranz die Oberhand behielt.

Ich denke, das Trinkgeld scheidet nicht nur die zivilisierte Welt von der unzivilisierten, sondern überhaupt erst den Menschen vom Tier: Welches Tier gibt denn schon mal Trinkgeld? So bildet das folgende kleine Erlebnis sicher die berühmte Ausnahme, die die Regel nur bestätigt: Ich transportierte eine Dame und ihren hochtoupierten kleinen Pudelhund. Als wir unser Ziel erreicht hatten, kramte die Dame in ihrer Geldkatze, während der Pudelhund, als habe er eine böse Ahnung, nervös und von ihr unbemerkt in der Manteltasche seines Frauchens stöberte. Diese gab mir schließlich auf den Cent genau abgezählt das Geld und schickte sich an zu gehen.

Hinter ihrem Rücken atmete schnell ihr Pudelhund. Er und ich – wir blickten uns an. Er hatte Tränen der Scham in den Augen, so peinlich war ihm das Verhalten seiner Herrin. Er hielt mir die Pfote hin und gab mir fünf Euro Trinkgeld. Ich dankte. Auf dem Kopf des Pudelhundes saß ein Froschfrosch und hielt die Kreditkarte der bösen Frau im Mund. Ich nahm sie und dankte auch ihm. Das ganze hatte nur Sekundenbruchteile gedauert und die garstige Hexe hatte nicht das Geringste bemerkt. Erst jetzt drehte sie sich um und zerrte ihren Pudelhund mitsamt dem Froschfrosch an einer Eisenkette grob und rücksichtslos aus dem Fond. Dann verschwand das vor allem nach moralischen Gesichtspunkten ungleiche Trio für immer in der Dunkelheit.

Gelogen? Gewiss, aber gut gelogen. Genau so oder ähnlich hätte es sich nämlich abspielen können und spielt es sich bestimmt täglich Milliarden Mal auf unseren Straßen ab: Ein deutsches Trinkgelddrama – wie leicht wäre es vermeidbar gewesen. ULI HANNEMANN