Auf Schlingerkurs zum Ich

Erklärungsdruck und Bekenntnisdrang: Nurkan Erpulat gehört zu den Protagonisten des jungen postmigrantischen Theaters im Ballhaus Naunynstraße. Geschichten der Einwanderung interessieren ihn, weil sie über Machtverhältnisse erzählen. Ein Porträt

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Er ist wütend. Immer soll er als Experte für Migration Stellung beziehen. Immer soll er seine Herkunft erklären und warum er seiner kurdischen Mutter zuliebe sein Schwulsein in der Familie nicht offen bekennt. Im Verein für die Rechte der Kurden gilt er als der schwule Türke, im Verein der schwulen Türken als der Kurde. Einfach nur ein unkompliziertes Leben haben, nein, das geht nicht. Dabei träumt er davon, solide, bürgerlich, mit Ehepartner und Kindern zu leben.

Der junge Mann, der auf der Bühne mit diesem ständigen Zwang zur Selbsterklärung hadert, ist eine der Figuren, die Nurkan Erpulat für sein Stück „Jenseits – bist du schwul oder bist du Türke“ erfunden, nein gefunden hat, im Verlauf vieler Gespräche. Nurkan Erpulat ist selbst dabei, zu einem Experten in Sachen Migration und Postmigration zu werden, als Regisseur und Autor, als Journalist bei Radio Mulitkulti (seit 2000), als Protagonist der ersten Spielzeit über postmigrantische Geschichten am Ballhaus Naunynstraße und nicht zuletzt als Mitglied einer Jury des Kultursenats, die Mittel für interkulturelle Projekte vergibt.

Aber ärgern darüber kann er sich nicht, zumindest nicht jetzt: „Jetzt ist vonseiten der Kultur und der Politik das Interesse da. Es gibt so viele Geschichten aus der Migration, die noch nicht erzählt wurden“, sagt er. Geärgert hat es ihn hingegen vor Jahren, noch an der Ernst Busch Schauspielschule, als man da keinen Shakespeare von ihm wollte, und er sich zu „Türkengeschichten“ abgeschoben fühlte. Aber das ist ein paar Jahre her. Und zu Shakespeare kann er immer noch zurückkommen, vielleicht auch am Ballhaus Naunystraße.

Nurkan Erpulat, 1974 in Ankara geboren, studierte Schauspiel zuerst in Izmir, an der Dokuz Eylül Universität. Seinen Eltern gefiel das, verbanden sie damit doch die Erwartung, dass er Schauspieler am Staatstheater werden könnte, mit Beamtenstatus bis zum Tode und guter Bezahlung. Allein was an den staatlich geförderten Theatern lief, war dem jungen Künstler bald zu konservativ, zu sehr „Brecht, wie Brecht ihn inszeniert hätte“. Er kam 1998 nach Berlin, um an der Universität der Künste Theaterpädagogik und Regie an der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch zu studieren. Heute ist er Lehrbeauftragter an der UdK.

Als Student in Deutschland anzukommen ist eine andere Sache, als zwei, drei Generationen lang die soziale Zurücksetzung der Familie hier erfahren zu haben. Nurkan Erpulat begegnete der Vorbehalt der deutschen „Mehrheitsgesellschaft“ gegenüber türkischen Männern in einer ganz anderen Form: in der Erleichterung seiner Gesprächspartner über sein Bekenntnis zum Schwulsein. Aha, also kein Macho, der später Frau und Kinder prügelt, schien ihm diese Reaktion oft zu verraten. Eine widersprüchliche und nicht nur erfreuliche Erfahrung, deren Paradoxien er in seinem Stück „Jenseits – Bist du schwul oder bist du Türke?“ mit überraschend unterschiedlichen biografischen Erzählungen belegt.

Das Stück, Anfang des Jahres am HAU uraufgeführt, wird ab heute im Ballhaus Naunynstraße wieder gespielt, wo vor zwei Wochen Erpulats Inszenierung der „Schattenstimmen“ von Feridun Zaimoglu und Günter Senkel herauskam. Auch „Schattenstimmen“ beruht auf Interviews, diesmal mit illegalen Einwanderern; beide Stücke sind von einem Schlingerkurs zur Identität geprägt, vom Kampf mit einer Fremdwahrnehmung, die zum Vorurteil und zur Romantisierung neigt.

Beide Stücke setzen die Sexualität als den Schauplatz, wo das Aushandeln der Identität mit den größten Verletzungen einhergeht. „Schattenstimmen“ ist der härtere Text, „erschreckender gerade darin, wo die Figuren erzählen, wie gut sie funktionieren, wie sie sich dem Anpassungsdruck gefügt haben“, sagt Erpulat. Und weil dort jede Stimme noch einen Menschen kennt, den sie unter sich sieht, auf den sie mit genau der Abwertung herabsieht, die sie selbst so fertigmacht. Von wegen „Multikulti-Solidarität“.

In beiden Inszenierungen geht es um „Machtstrukturen, ähnlich wie in den Zofen von Jean Genet“, sagt Nurkan Erpulat. „Dort träumen die Zofen zwar davon, an den Platz ihrer Herrin zu kommen, bringen sich dabei aber letztlich gegenseitig um.“ Und das, der Aspekt der sozialen Hackordnung, ist ihm als inhaltliche Ebene mindestens so wichtig wie das migrantische Setting.

Beide Inszenierungen stehen aber auch unter dem gewaltigen Mitteilungsdrang, sich endlich Gehör zu verschaffen, der die Zuschauer hart in den Griff nimmt. Man fühlt sich als ein Teilchen jener abwesenden Mehrheit angesprochen, deren Blick denen, die sich hier erklären, keine Ruhe lässt.

In „Schattenstimmen“ lässt Nurkan Erpulat einen Mann eine Frauenrolle spielen, einen jungen türkischen Schauspieler eine osteuropäische Prostituierte, die die Logik ihrer Zuhälter nachbetet. Solche letztendlich auch selbstzerstörerischen Widersprüche interessieren ihn: Er habe dabei auch an seine Großmutter gedacht, „die sehr stark war, um den sich herumtreibenden Großvater zu ersetzen und die Familie zu führen“, sich dabei für sich selbst aber das Bild des frauenverachtenden Patriarchen zum Vorbild nahm. Nicht schön.

Und dennoch hat ihre Stärke ihn auch so beeindruckt, dass etwas von dieser widerstreitenden Gemengelage der Gefühle eben auch in die Rolle der Prostituierten einfließt.

„Jenseits – bist du schwul oder bist du Türke?“, 2. bis 5. Dezember im Ballhaus Naunynstraße, 20 Uhr