Oasen der Ruhe zum Überleben

Über 5.000 Frauen und Männer in Köln sind obdachlos. In Cafés und „Restaurants“ wie dem „Gulliver“ oder der „Lore“ bekommen sie neben günstigem Essen auch etwas Würde und Normalität

Von Nicole Klemp

Die Stationen von Wolfgangs Leben sind auf seinen Unterarmen tätowiert: „Glaube“, „Hass“, „Hoffnung“. Er kennt das Leben auf der Straße, kennt jeden hier im Lokal: Teddy etwa, die 20-jährige Obdachlose mit dem kleinen Hund „Samson“. Sie kommt schon seit Jahren hierher. Genau wie Ernst, der kleinwüchsige Junkie mit der Costa-Brava-Kappe. Das Leben auf der Straße ist ihm anzusehen, wie vielen hier im Lobby-Restaurant „Lore“, dem Mahlzeitendienst des Kölner Arbeitslosenzentrums für Obdachlose und Bedürftige.

Sozialarbeiterfreie Zone

Heute gibt es Putengeschnetzeltes mit Spätzle. Teddy, Ernst und 60 andere Bedürftige kommen fast täglich hierher. Für 2,25 Euro bietet das „Lore“ jeden Mittag ein warmes Essen mit Vorsuppe, Dessert und Getränk. Dann sitzen alle zusammen: Obdachlose, Arbeitslose, Junkies, Rentner, sozial schwache Familien und Jugendliche, die Platte machen.

Das „Lore“ versteht sich nicht direkt als Armenküche. „Wir nennen uns Restaurant“, sagt Geschäftsführer Bernd Hicker. „Hier muss niemand anstehen. Die Gäste werden bedient wie in jedem anderen Restaurant auch.“ Er legt ebenso Wert darauf zu sagen, dass das „Lore“ für die Besucher eine Sozialarbeiterfreie Zone ist. Sozialpädagogin Christiane von Stockum ist nur für die Mitarbeiter vor Ort. „Der größte Teil des angesprochenen Personenkreises lehnt institutionalisierte Hilfen ab“, sagt sie. Dennoch kommen die Besucher manchmal zu Christiane oder zu Wolfgang, dem Koch, um von ihren Problemen zu erzählen. Die sind den Mitarbeitern des „Lore“ nicht fremd: Sie sind alle Ex-Betroffene und Teilnehmer im Programm „Hilfe zur Arbeit“.

Allein in Köln sind mehr als 60.000 Menschen auf Sozialhilfe angewiesen, über 5.000 Männer und Frauen sind obdachlos. „Die Dunkelziffer ist weitaus höher“, sagt Pater Hermann-Josef Schlepütz, Obdachlosenseelsorger in Köln. Sie alle besuchen die etwas anderen Restaurants der Stadt wie das „Lore“, das Café „Gulliver“, eine weitere Einrichtung des Kölner Arbeitslosenzentrums, das Café Victoria für Drogenabhängige, das Café Auszeit für obdachlose Frauen oder die Suppenküche am Appellhofplatz. Weil es immer mehr Bedürftige gibt, versuchen Kirchen und soziale Institutionen, diese kostenlose Essensausgabe zu erhalten. An vier Abenden die Woche werden dort etwa von der Initiative „Bürger für Obdachlose“ oder der Emmaus-Gemeinschaft 80-100 Mahlzeiten ausgegeben.

Anders als in den Einrichtungen können die Bedürftigen hier, wenn sie wollen, anonym bleiben und sich einfach ihr Essen abholen. Dennoch ist Schwester Alexa, Obdachlosenseelsorgerin in Köln, stets vor Ort. Sie und Pater Hermann-Josef zeigen überall Präsenz und fungieren als Bindeglied zwischen den Obdachlosen und den Einrichtungen. „Bei uns gibt es keine festen Regeln und keine geschlossenen Räume“, sagt Schwester Alexa. „Das erschwert uns zum Teil die Arbeit, macht es den Obdachlosen aber oft leichter, an uns heran zu treten.“ Seit 11 Jahren ist Alexa auf Kölns Straßen unterwegs und betreut, ermutigt, stabilisiert und begleitet Obdachlose auf ihrem Weg – wenn es sein muss, auch auf ihrem letzten. Gemeinsam mit zahlreichen Spendern haben die Schwester und der Pater eine Interessengemeinschaft gegründet, die auf Kölns Friedhöfen Gräber aufkauft, um wenigstens einigen Obdachlosen eine anonyme Beerdigung ersparen zu können.

Familienersatz

Auch die sozialen Einrichtungen sind darauf bedacht, ihre Besucher mit dem Lebensnotwendigsten zu versorgen und ihnen wenigstens etwas Normalität zu vermitteln. In den Notschlafstellen für Drogenabhängige des Sozialdienst Katholischer Männer (SKM) stehen Küche und Lebensmittel zum Kochen zur freien Verfügung. Zusätzlich wird den rund 100 Besuchern tags und nachts eine fertige warme Mahlzeit angeboten – in der Woche für 50 Cent, am Wochenende kostenfrei. „Doch am beliebtesten ist bei uns der warme Vanillepudding“, sagt Andreas Hecht. Den bekommt man schon für 25 Cent.

Und auch für das Frühstück gibt es immer eine Adresse: In den hellen Räumen des Cafés „Gulliver“ am Hauptbahnhof gibt es für einen Euro ein großes Frühstücksgedeck. Hier kann zudem geduscht werden. Zum Preis von 50 Cent bekommt man ein Handtuch, Shampoo und eine Einwegrasierklinge. „Es besteht großer Bedarf an sanitären Anlagen“, sagt Bernd Hicker. „Früher haben sich die Gäste des „Lore“ zum Teil mit dem Wasser aus der Kloschüssel gewaschen.“

Diese Erniedrigung bleibt den Besuchern heute erspart. Die Atmosphäre ist auch hier herzlich. Man hört Gespräche über Tabakwaren, Wohnung, Job und gemeinsame Bekannte, sieht Frauen und Männer allein bei Kaffee, Zigarette und einem Buch. Für alle sind die Armenküchen wie Familienersatz, wie ein Stück Heimat. Hier können sie sich für einen Moment dem täglichen Existenzkampf auf der Straße entziehen und auftanken.