Knappheit für alle

Arbeit und nichts anderes soll für jeden Menschen die Teilhabe an der Gesellschaft gewährleisten. Systemtheoretische Anmerkungen zur aktuellen Sozialdebatte, die in staubigen Gleisen rangiert

von PETER FUCHS

Arbeitslosigkeit ist in der Gegenwart zweifelsfrei ein herbes Schicksal und – da sie in Massen auftritt – eine kaum zu überschätzende Bedrohung der sozialen Ordnung. Sie ist das Skandalisierungsthema schlechthin in allen öffentlichkeitswirksamen Arenen der Bundesrepublik. Dabei wird häufig so verfahren, als sei Arbeit etwas quasi Naturwüchsiges, das Innehaben von Arbeitsplätzen automatisch positiv, das Nicht-Innehaben automatisch negativ.

Es scheint klar zu sein, was Arbeit ist und wie sie wirkt und was geschieht, wenn Arbeitsmöglichkeiten beschnitten werden. Nicht selten aber stecken hinter solchen Vorannahmen Denk- und Kommunikationsblockaden. Ein anderes Arrangieren der Wissensbestände mit Überraschunggewinnen verbietet sich dann wie von selbst. Man könnte ja darauf aufmerksam machen, dass niemand so recht weiß, was Arbeit ist, entsprechend eigentlich auch nicht so genau, was Arbeitslosigkeit ist. Am Ende bleibt nur, dass der seltsame Wortbestandteil „Losigkeit“ sich nur auf bezahlte Arbeit beziehen kann, dass also Arbeit heißt, für irgendwelche Tätigkeiten bezahlt zu werden, und Arbeitslosigkeit, dass man für Arbeit nicht regelmäßig bezahlt wird. Dann ginge es aber weniger um Arbeit als um Zahlungen, wobei sich aber offensichtlich das Wort „Zahlungslosigkeit“ bzw. „weitgehend Zahlungsloser“ nicht einzubürgern beginnt.

Dieser Schwierigkeit kann man, und sei es versuchsweise, entkommen, wenn man Arbeit zunächst als ein Medium begreift. Darunter versteht man in der soziologischen Systemtheorie nichts weiter als eine Menge lose gekoppelter, gleichartiger Elemente, die – für eine Weile – in Form gebracht werden können, etwa wie man Buchstaben in die Form von Wörtern, Geld in die Form von Preisen, Leute in die Form von Klienten etc. bringen kann. Sieht man dabei von allerlei theoretischen Komplikationen ab, bleibt festzuhalten, dass Medien massenweise Elemente für Formbildungen offenhalten und dass alle Form sich wieder auflöst im Medium, damit es wieder und anders genutzt werden kann. Das Geld hält die Preise nicht fest, Buchstaben gerinnen nicht so in Wörtern, dass sie nicht für die Bildung anderer Wörter eingesetzt werden können.

Arbeit als Medium

Wenn man nun sagt, dass Arbeit ein Medium sei, wird sofort klar, dass es an Arbeit nicht fehlt. Es gab unendlich viel zu tun, und daran hat sich nichts geändert, und daran wird sich nichts ändern. Wenn das einleuchtet, kann man danach fragen, welche Formen sich dem Medium historisch und sozial eingeschrieben haben und einschreiben. Zum Beispiel war Arbeit nicht immer positiv besetzt, Arbeitslosigkeit nicht immer negativ. Frühe (schon antike) Bestimmungen dessen, was Arbeit sei, gravitierten um die Unterscheidung frei/unfrei. Arbeit, vor allem körperliche Arbeit, ist die Angelegenheit der Unfreien, sie ist Qual, Not, Daseinselend, den Sklaven (und deren Frauen und Kindern) aufgebürdet. Nichtarbeit ist Sache der freien Menschen. Nichtarbeit ist nicht so etwas wie „Losigkeit“, sie ist Privileg und alles andere als schändlich.

Diese Einschätzung hält sich bis ins Mittelalter durch und wird mit der christlichen Vorstellung aufgeladen, dass die Ungleichheit der Schichten an die gottgewollte und dadurch legitimierte Ordnung gebunden sei. Über das Maß und die Art der je zugewiesenen Arbeit entscheidet der Zufall der Geburt. Die Schicht, in die man via Familienzugehörigkeit eingeboren ist, definiert, welche Arbeit getan werden muss und wer vom Arbeitenmüssen verschont bleibt. Der Unterschied, der darüber befindet, ist der von hoher und niedriger Geburt oder auch der von Arm und Reich.

Das ändert sich im Übergang zur Neuzeit. Schichtzugehörigkeit und Arbeit werden mehr und mehr entkoppelt. Das Umarrangieren der ständischen Hierarchien vor allem durch das Bürgertum führt auf langem Weg, aber erfolgreich dazu, dass der Vorrang begünstigter Geburt (nicht arbeiten zu müssen) abgebaut und allmählich überführt wird in die reformatorische Vorstellung der sittlichen Arbeitspflicht eines jedes Christenmenschen, sei er adlig oder nicht. Es ist dieser Zeitraum, in dem die Nichtarbeit anrüchig wird und etwa der Druck auf die mittelalterliche Vagabondage zunimmt: in der Form von Arbeitszwangsmaßnahmen, eine Idee, die gegenwärtig wieder ein Revival zu haben scheint. Jedenfalls ist es die sittliche Verpflichtung zur Arbeit, die den Inklusionsbereich der Gesellschaft als den erscheinen lässt, in dem gearbeitet wird, wohingegen der Exklusionsbereich nun derjenige ist, in dem die Parasiten hausen.

Nation der Arbeit

Über einige historische Etappen hinweg, in denen Bürger und Beruf zusammengeschlossen werden, wird dann Arbeit zunehmend abstrakter beobachtet. Sie wird gänzlich ausgekoppelt aus ständischen Kontexten, sie wird zum Vehikel einer alle Menschen umfassenden Inklusion, wofür die Verfassung Frankreichs nach der großen Revolution einsteht: Der dritte Stand arbeitet, und er ist die Nation. Im Anschluss daran wird eine Anthropologie des arbeitenden Menschen geschaffen und im Gegenzug eine Negativanthropologie des Müßiggängers, eine Entwicklung mit erheblichen Folgen bis in die Gegenwart hinein. Müßiggang ist aller Laster Anfang.

Arbeit wird zu einem, wie man sagen könnte, Inklusionsmedium, das quer zur Schichtordnung steht. Damit ist sie einerseits funktional im Blick auf eine ständefreie differenzierte Gesellschaft, die sich nur noch aus großen Funktionssystemen wie Wirtschaft, Recht, Politik, Wissenschaft, Erziehung etc. zusammensetzt, funktional insofern, da sie die Schichtordnung aufzulösen hilft. Andererseits entsteht kein eigenes System der Arbeit. Als Medium wird Arbeit von allen Funktionssystemen in Anspruch genommen. Gearbeitet werden muss schließlich überall, sei es mit der Stirn, sei es mit der Faust, sei es als Künstler (weitgehend unbezahlt), sei es als Hausfrau (unbezahlt), als Stahlwerkarbeiter, Politiker, Lehrer, Pfarrer oder Superstar.

Arbeit wird damit seltsam diffus, inbesondere in dem Moment, in dem sie mit marktförmig orientierter Geldwirtschaft in Kontakt gerät. Sie nimmt die paradoxe Form eines knappen Mediums an, obwohl das Medium nicht knapp ist. Die Knappheit trotz Nichtknappheit wird erzeugt dadurch, dass die Wirtschaft Arbeit als etwas behandelt, wofür gezahlt werden muss, weil sie eben knapp ist. Zugleich muss die Arbeitsmöglichkeit, die bezahlt wird und also knapp ist, für alle Individuen bereitgestellt werden, wenn sie denn das gesellschaftlich zentrale Medium der Inklusion für jeden Menschen sein soll.

Angesichts dieser Paradoxie verdunstet gleichsam die Arbeit. Sie wird Thema unabschließbarer Kommunikationen über Arbeitsrecht und Arbeitspflicht (Diskussionen, die bis zum Rand aufgefüllt sind mit Moral). Dabei verknappt sie sich weiter, weil sie teuer ist, und wird teurer, weil sie als knapp behandelt werden muss, damit für sie gezahlt wird. Vor allem driftet sie ersichtlich ab in Bereiche, in denen Arbeit ohne Arbeitsplatz (mit oder ohne Bezahlung) als Schwarzarbeit etwa oder Eigenarbeit mehr und mehr gesellschaftlicher Usus wird.

Knappe Arbeit

Ein duales Wirtschaftssystem entsteht, in dem mittlerweile das Eigentum vieler an arbeitsplatzfreier Arbeit hängt. Man könnte auch sagen, die offizielle Arbeit, die an Arbeitsplätzen hängt, parasitiert am Knappheitscode der Wirtschaft, wird aber selbst mittlerweile umfangreich parasitiert durch nichtoffizielle Arbeit. Das kann jeder Handwerksbetrieb bestätigen, dessen Arbeit teuer ist und deshalb die Möglichkeit verschafft, diese teure Arbeit durch nichtteure Arbeit zu ersetzen, was dazu führt, dass die teure Arbeit noch teurer und die nichtteure Arbeit mittlerweile ebenfalls schon knapp ist. Das ganze Dilemma wird noch deutlicher, wenn man mitsieht, dass Arbeit im Kontext des Knappheitscodes der Wirtschaft eben der Beseitigung von Knappheit dient, aber dabei selbst unter das Kriterium der Knappheit fällt.

Das sind zweifelsfrei intrikate Verhältnisse. Es scheint, dass die Arbeitsplatzarbeit, eben die Form der offiziellen Arbeit, nicht mehr Inklusion garantiert. Sie kann das allenfalls als knappes Gut, für das Zahlungen geleistet werden müssen, führt also den mächtigen Schatten der Exklusion mit sich, in dem aber andere Formen von Arbeit gedeihen, die dann komplette „Zahlungslosigkeit“ verhindern. Der einfache Denkschalter arbeitslos/in-Arbeit-befindlich gewährt keinen Blick mehr auf die tatsächliche Komplexität moderner Verhältnisse. Die Funktionärokratie der Gewerkschaften ist in diesem Schema gleichsam erstarrt, und die Politik (als auf Wahlen bezogenes Dauerfragezeichen) nicht minder.

Sie pendelt um die Frage, wie viel an supplementären Zahlungen an Nicht-Arbeitsplatz-Inhaber aufzubringen sei oder um das Problem, mit welchen politischen Rahmenbedingungen das knappe Medium Arbeit entknappt werden könnte. Dazu aber müsste Arbeit ent-teuert werden mit dem Rattenschwanz der Folgen, die die Abnahme von Zahlungsmöglichkeiten von Konsumenten für die Wirtschaft bedeuten würden, unter anderem nämlich, dass die Zahlungsmöglichkeiten für Arbeitsplätze erneut abnehmen, Arbeit also wieder zu teuer wird.

Als Inklusionsmedium ist Arbeitsplatzarbeit empirisch gescheitert. Supplementäre Inklusion durch Zahlungen, die durch Arbeit nicht mehr gedeckt sind, sind deshalb nur befristete Simulationen. Starrheiten, die dem 19. Jahrhundert entstammen und der alten Semantik von Kapital versus Arbeit geschuldet sind, stabilisieren in Wirklichkeit die Evolution einer dualen Wirtschaft. Viele, die von diesen Positionen aus ihre Rufe erklingen lassen, rangieren in diesen alten, doch schon sehr staubigen Geleisen.

Der Autor, ein Schüler Niklas Luhmanns, ist Professor für allgemeine Soziologie und Soziologie der Behinderung in Neubrandenburg