bernhard pötter über Kinder
: HIER SCHLIEFEN KINDER!!

Wie bitte? Es wird immer leiser um uns herum, sagen Experten? Aber die waren ja auch nicht bei uns zu Hause

Herr Schnabulke war selbst schuld. Warum wohnte er auch im Erdgeschoss unserer Plattenbausiedlung. Und warum hatte das Kinderzimmer seiner Wohnung auch eine Außenwand zu den Mülltonnen, wo wir Fußball spielten. Und regelmäßig mit dem Fußball gegen die Wand wummerten. Ebenso regelmäßig tauchte Schnabulkes roter Kopf auf dem Balkon auf, wenn wir mittags unser Schusstraining absolvierten. „Hier schlafen Kinder!“, brüllte Schnabulke. „Jetzt nicht mehr!“, brüllten wir zurück, schossen noch ein paar mal extra heftig gegen die Mauer und rannten weg.

30 Jahre später gilt Nachbar Schnabulke mein ganzes Mitgefühl. Je älter ich werde, desto mehr schätze ich die leisen Töne. Und je schlechter meine Kinder schlafen, desto allergischer reagiert die ganze Familie auf Lärm. Also auf den Krach, der von außen kommt. Laut sind schließlich immer nur die anderen.

Wir jedenfalls leben zwischen Leisetreterei und Hörsturz. Gerade haben wir das Geschrei vom Abendessen beruhigt, das Gekreisch beim Waschen hinter uns und das Geplärre der übermüdeten Gören besänftigt; gerade wiegen oder streicheln wir die Kinder in den Schlaf, gerade beginnen Tinas Augenlider zu flattern, gerade rollt sich Jonas in Schlafhaltung um seine Bettdecke, gerade gleiten Anna und ich lautlos aus dem Zimmer

(Luft anhalten),

da startet über uns mit einem satten „Whhoooaaaah“ ein Düsenjäger. Oder war es doch nur die Party der Nachbarstochter?

Als wir Jonas und Tina nach einer halben Stunde wieder zum Schlafen bringen, jagt auf der Straße Saddam der Jüngere von Gegenüber mit röhrendem Motor aus der Boxengasse und beschleunigt trotz der Schikanen einer Spielstraße auf 220. Gern würde ich jetzt aus dem Fenster brüllen: „Hier schlafen Kinder!!“ Aber das stimmt ja nicht mehr.

LÄRM IST HEUTE DAS GRÖSSTE UMWELTPROBLEM. Das musste mal laut gesagt werden. Die Belastung durch Schall hat vor allem in den Städten den Punkt erreicht, wo ganze Gebiete als „Lärmslums“ gelten. Pro Jahr erwartet der Verkehrsclub Deutschland 40 Milliarden Euro an Schäden durch Lärm. In der Berliner Innenstadt gab es schon vor ein paar Jahren keine Ecke (KEINE ECKE!) mehr, in der man keinen Autolärm hören konnte. Seien Sie froh, dass dieser Text gedruckt ist. SONST MÜSSTE ICH SCHREIEN, DAMIT SIE MICH VERSTEHEN.

Ähnlich wie Menschen, die an einer Bahnstrecke wohnen, empfinden wir als Eltern Lärm allerdings sehr unterschiedlich. Manche meinen, Kindergeschrei sei Zukunftsmusik – für mich allerdings eher aus der Sparte Punk. Kreischt es auf dem Spielplatz, schalten wir schnell (ab): Ist es mein Kind, das da plärrt? Nein? Dann blendet das Rauschunterdrückungssystem im Stammhirn die Töne schlicht aus. Nach einem durchtobten Nachmittag brummt mein Schädel nur, wenn es plötzlich still wird, weil Anna mit den Kindern bastelt. Und nach unserer letzten Bahnfahrt waren die Scheiben im ICE-Großraumwagen tatsächlich von innen gesprungen. Jonas hatte seinen gespielten Feuerwehreinsatz mit echtem Sirenengeheul begleitet.

„Ihr seid so laut!“, wirft er uns dagegen vor, als wir ganz normal am Esstisch mit dem Besteck klimpern. Unser Sohn hält sich beide Ohren zu. Und wehe, man hebt die Stimme, um ihn auf etwas hinzuweisen. „Du sollst nicht so brüllen!“, brüllt er dann. Keine zwanzig Sekunden später kann er dann aber mit aller Macht ausdauernd auf seine Blechtrommel und unsere Nerven einschlagen, BIS ES UNERTRÄGLICH WIRD. Seine Schwester beginnt zu heulen, wenn ich ihr mit fester Stimme verbiete, in der Küche am heißen Herd zu spielen. Nur um dann in einer Hochfrequenz zu kreischen, dass die Teller und Gläser im Schrank zu summen beginnen. Wenn ich flüstere: „Ins Bett!“, hält Jonas sich die Ohren zu, um der Belästigung zu entgehen. Aber dem Bauarbeiter mit Presslufthammer (Ohrenschützer) kann er (keine Ohrenschützer) zusehen, bis seine Trommelfelle ausleiern.

Aber HALLO, HÖREN SIE! Alles wird gut. ALLES WIRD GUT! Bei aktuellen Umfragen geben inzwischen 72 Prozent aller Deutschen an, ruhig zu wohnen. Vor vierzig Jahren waren das nur 65 Prozent. Und am Arbeitsplatz klagen nur noch 15 Prozent der Menschen über Lärm, nicht mehr 36 Prozent. Das liegt daran, dass die Häuser inzwischen besser schallisoliert sind. Und außerdem arbeiten die meisten Menschen nicht mehr an lauten Maschinen, sondern in Büros und an Computern.

Aber ich wette, es gibt noch einen anderen Grund. Seit 1960 ist nämlich die wichtigste häusliche Schallquelle um immerhin 33 Prozent gedämmt worden. Damals gab es im Durchschnitt pro Haushalt 2,1 Kinder. Heute sind es nur noch 1,4.

Fragen zu Kindern? kolumne@taz.de