Raus aus den Studios

Ein unverbesserlicher Humanist: Der Regisseur Hiroshi Shimizu zeichnete in 160 Filmen ein Panorama der japanischen Gesellschaft. Eine Retrospektive im Arsenal widmet sich dem vergessenen Veteranen

Schon bald hatte er es satt, den Erfüllungs-gehilfen für launische Filmstars zu spielen

VON ANDREAS BUSCHE

Im Grunde ist der japanische Arbeiter ein armes Schwein. Wie er sich auch abmüht, seine Person wird es nie zu gesellschaftlichem Ansehen bringen. Routinemäßiges Abspulen bewährter Produktionsstandards ist das Maß aller Dinge. Die Leistung des Produzenten muss hinter dem Gebrauchswert des Produkts zurückstehen. Dies war auch das Dilemma des Regisseurs Shimizu Hiroshi (1903–1966). Während der „goldenen Ära“ des japanischen Kinos in den Dreißiger- und Vierzigerjahren sollte ein Film möglichst so funktionieren wie die Automobile, die später im Nachkriegs-Japan von den Fließbändern rollen sollten: qualitativ hochwertig, erschwinglich (d. h. intellektuell nicht zu anspruchsvoll), keine Extras. Die Mittelklasse machte mobil.

Shimizus Geschichte begann an den Kamata-Studios. Als 1924 der legendäre Studioboss Kido Shiro die Kamata-Studios der größten Produktionsfirma Shochiku übernahm, vollzog er einen radikalen Wandel in der Firmenpolitik. Kido reformierte das Shimpa-Melodram, das zu einem Markenzeichen der Kamata-Studios geworden war, und passte es dem Geschmack eines sich im Umbruch zur Moderne befindenden Publikums an. Er befreite es von stereotypen Frauenbildern und verpasste ihm einen leichteren, komödiantischen Touch. Diese Filme sollten das Lebensgefühl ganz normaler Mittelklassefamilien widerspiegeln. Der damalige Regieassistent Shimizu Hiroshi wurde in dieser Phase Kidos treuester Auftragsfilmer. Allein zwischen 1924 und 1932 brachte er es auf einen Output von 80 Filmen. Da war er gerade 29 Jahre alt.

Heute gilt Shimizu als vergessener Veteran des japanischen Kinos. Ganz im Gegensatz zu seinem Freund Ozu Yasujiro und Zeitgenossen wie Mizoguchi Kenji oder Shimazu Yasujiro ist ihm nie die Anerkennung zuteil geworden, die seine Kollegen international erfahren haben. Geschweige denn national: Japanische Filmemacher konnten seit jeher internationale Festivaljurys besser überzeugen als ihre eigenen Landsleute. Shimizu ist in der Geschichte des Kinos ein unbeschriebenes Blatt, was für einen Regisseur mit einem Gesamtwerk von über 160 Filmen, noch dazu aus einem so sorgfältig dokumentierten Filmland wie Japan, ziemlich unvorstellbar scheint. Der Umstand, dass heute nur zwei Dutzend seiner Filme überhaupt noch existieren und die Filme seiner Stummfilmphase bis auf den umwerfend schönen „Japanese Girls at the Harbour“ (1933) sogar komplett verschwunden sind, erschwert seine Rezeption. So arbeiteten Filmhistoriker in den vergangenen Jahren vor allem daran, das Vorurteil zu entkräften, Shimizu sei lediglich ein Fließbandproduzent im Dienste seiner Company gewesen.

Am kommerziellen Nutzen Shimizus für Shochiku besteht kein Zweifel. In den 20ern und 30ern drehte er mit den größten Stars des frühen japanischen Kinos wie Takamine Mieko oder Saburi Shin. Aber bald schon hatte er es satt, den bloßen Erfüllungsgehilfen für Shochikus launische Filmstars zu spielen. Ihn drängte es nach draußen, raus aus der Enge des Studios; und hier, on location, gelang es ihm schließlich, eine eigene Filmsprache zu entwickeln, die sich – sehr japanisch – innerhalb eines stark begrenzten Handlungsspielraums diversifizieren musste. Darin bestand Shimizus Stärke: in einem Arbeitsfeld mit klaren Vorgaben mit größter Integrität seine eigene Vision zu verwirklichen. Mizoguchi hat das einmal sehr treffend auf den Punkt gebracht. Während er und Ozu ihre Resultate durch harte Arbeit erzielten, ginge Shimizu einfach raus und filmte. Oft ohne Drehbuch übrigens.

Wie wunderbar das in seinem Fall funktionierte, zeigt eine zwölf Filme umfassende Reihe, die seit gestern im Kino Arsenal zu sehen ist. Eine seltene Gelegenheit, die Filme Shimizus einmal zu Gesicht zu bekommen. Der empfindliche Zustand vieler Kopien macht darüber hinaus deutlich, wie viel Arbeit der Wiederentdeckung dieses Regisseurs noch zu widmen ist.

Wenn man Shimizu heute in Japan überhaupt noch kennt, dann als Regisseur von Kinderfilmen. Der heute Abend gespielte (um 19.30 Uhr)„Children of the Beehive“ ist neben Shimizus Meisterwerk „Children in the Wind“ (8./22. 3.) das schönste Beispiel für seinen – trotz einfachster und gebräuchlichster Mittel – so unvergleichlichen Stil. Ständig ist die Kamera in Bewegung, erfasst begeisterte – oder traurige – Kindergesichter, verfolgt in langen Einstellungen ihre Aktivitäten und wechselt in die Totale, wo die Kinder mit der Landschaft in vollkommener Harmonie einzugehen scheinen.

So einfach funktioniert Shimizus „transzendentales“ Kino, aber man muss es gesehen haben, um seine Wirkung zu verstehen. Shimizu liebte Landschaften, vor allem das japanische Hinterland und dessen krumme, vormoderne Straßen. Fast alle Filme suchen diese Balance zwischen Natur und Mensch – im Bild. Seinen Schauspielern gab er die Regieanweisung, ihre Rollen so zu spielen, dass sie die Schönheit der Natur nicht zerstörten. Darum arbeitete er oft mit Kindern, Laien generell; dass sie ihre Rolle gut spielen konnten, war ihm nicht wichtig. Jede Form der Inszenierung betone sowieso nur die Künstlichkeit eines Films, hat er sinngemäß einmal gesagt. Shimizu war ein unverbesserlicher Humanist, vergleichbar vielleicht mit dem frühen Chaplin.

Sein einziger im Ausland etwas bekannterer Film „Mr. Thank-You“ (15./25. 3.) weist Shimizu zudem als genauen Beobachter sozialer Verhältnisse aus, was Kritiker im Anbetracht von Shimizus vorkonditioniertem Blick gerne übersehen haben. Ein Busfahrer, den alle nur als Arigato-San kennen, weil er sich bei Fußgängern en passant stets höflich bedankt, hat auf seinem Weg durch das ländliche Japan eine bunte Mischung von Fahrgästen an Bord: u. a. einen gescheiterten Geschäftsmann und eine Frau, die aus Armut ihre Tochter verkaufen muss; auf der Straße begegnet ihm später noch eine koreanische Zwangsarbeiterin. Es wird eine interessante Busfahrt, fast wie zwei Jahre später in John Fords „Ringo“. Shimizu interessierte sich stets mehr für die Dynamik einer Gruppe als für die Motive von Einzelpersonen. Mit seinem humorvollen Blick entwarf er in fast jedem Film auch ein kleines Panorama der japanischen Gesellschaft. Hier anzuknüpfen könnte der nächste Schritt einer weiterführenden Auseinandersetzung mit dem Werk Shimizus sein.

Retrospektive Hiroshi Shimizu im Kino Arsenal, Potsdamer Str. 2, bis 30. März