Streichelponys und Backpfeifen

Wie ich einmal die Schule schwänzte und beinahe zum Zirkus gegangen wäre

„Ich war noch ein Kind, da kamen Zigeuner, Zigeuner in unsere Stadt …“

Nein, es waren gar keine Zigeuner, es waren diese zippeligen Leute, die im Winter immer mit Kamelen, Eseln und Ponys in der Fußgängerzone stehen und um Futtergeld für hungernde und frierende Zirkustiere bitten.

Ich war damals acht oder neun Jahre alt und kam an einem Nachmittag nach dem Blockflötenunterricht an einem Platz vor dem örtlichen C & A vorbei, auf dem ein junger Mann mit einem braunweiß gescheckten Shetlandpony stand. Ich ging zu ihm hin, fragte, ob ich das Pony streicheln dürfe – was kleine Mädchen halt so machen, wenn sie ein Pony sehen. Klar durfte ich es streicheln, und der junge Mann, er mochte vielleicht 17 oder 18 Jahre alt gewesen sein, erzählte mir, er sei beim Zirkus. Ich war sofort in ihn verknallt.

Am nächsten Tag ging ich direkt nach der Schule wieder hin, durfte das Pony sogar selbst halten und auch selbst mit der Blechdose schütteln. Und während wir dort so standen, erzählte mir Mikos – so hieß mein neuer Freund – Zirkusgeschichten. Er war Artist, im Zirkus geboren und groß geworden, war nie zur Schule gegangen, hatte schon die ganze Welt gesehen und all diese spannenden Dinge. Ich glaubte jedes Wort. Und ich war sehr glücklich, dass ich dort mit ihm stehen durfte, das Halfter in der Hand – ich fühlte mich, als ob ich selbst zum Zirkus gehörte.

Irgendwann ging ich dann doch nach Hause – und dort knallte es! Es war schon 15 Uhr, Oma war aufgelöst, die Suchtrupps schon unterwegs und beinahe hätte man die Polizei benachrichtigt. Mein Instinkt riet mir, den wirklichen Grund meiner Verspätung zu verschweigen. Also log ich, ich hätte einen anderen Heimweg von der Schule ausprobiert, der hätte etwas länger gedauert. Mein Opa raste! Einen Umweg, der zwei Stunden ausmachte? Den sollte ich ihm bitte mal zeigen, den wolle er gern mal sehen. Naja, Fazit war, dass ich, wenn ich mich noch einmal nach der Schule verspäten sollte, zwei Wochen Hausarrest und Fernsehverbot bekäme.

Am nächsten Tag ging ich nur kurz zu Mikos und dem Pony, sagte guten Tag und entschuldigte mich dafür, dass ich gleich weitermüsse. Mikos sagte: „Ach schade! Ohne dich ist es viel langweiliger, kommst du denn morgen wieder?“ Ich versprach es ihm. Zu Hause überlegte ich fieberhaft, wie ich mein Versprechen einhalten könnte. Es half nur eins: Schule schwänzen.

Tags drauf ging ich also pünktlich aus dem Haus: Ranzen gepackt – und guten Gewissens konnte ich versichern, dass ich pünktlich wieder daheim sein würde. Ich wanderte schnurstracks zu unserem Stammplatz, aber – o Jammer! Mikos und das Pony waren noch nicht da, die Fußgängerzone war noch leer und alles machte einen trüben Eindruck. Ich hatte plötzlich so viel Zeit totzuschlagen und ich wusste nicht wie.

Und so taperte ich durch die ganze Stadt auf der Suche nach dem Zirkus, aber weit und breit war kein Zirkus zu sehen. Und die ganze Zeit hatte ich dieses typische, schale Gefühl im Bauch, das man nur hat, wenn man die Schule schwänzt.

Das war aber sofort verflogen, als ich nach einer halben Ewigkeit Mikos plus Pony wieder am Stammplatz vorfand. „O, du bist ja früh heute da“, freute sich Mikos aufrichtig. Ich erzählte ihm, dass ich seinen Zirkus gesucht hatte, und er murmelte ausweichend etwas von einem Winterquartier ganz weit draußen, was mir als Erklärung völlig genügte. Und so stand ich den Vormittag bei ihm, lauschte seinen Erzählungen und fühlte mich toll.

Einmal kam ein älterer Herr aufuns zu, streichelte das Pony, warf eine Münze in meine Dose und fragte mich schließlich freundlich: „Na, kleines Fräulein? Musst du denn gar nicht in die Schule gehen?“ Noch bevor ich etwas stammeln konnte, sagte Mikos schnell und bestimmt: „Das ist meine kleine Schwester, die geht nicht zur Schule.“

Ich barst fast vor Stolz! Er hatte mich als seine Schwester bezeichnet, es war geschehen, ich war endlich aufgenommen, ein echtes Zirkuskind mit einem großen Bruder, der mich vor allen dummen Fragen und Menschen beschützte. Ich schwebte auf Wolke sieben, und als ich heim gehen musste, rief ich selig: „Bis morgen, großer Bruder.“

Das Erste, was passierte, als ich pünktlich nach Hause kam, war eine kräftige Backpfeife mitten ins Gesicht! Von meiner Mutter! Warum war die schon da? Weil der freundliche, ältere Herr, der mich angesprochen hatte, ein Bekannter meiner Mutter war, mich erkannt und sofort danach meine Mutter im Büro angerufen hatte. Es gab Hausarrest und Fernsehverbot für zwei Wochen. Die Lehrer waren angehalten, jede Verspätung von mir sofort zu melden. Ich konnte zwischen Schulschluss und Mittagessen nicht mal mehr einen unbeobachteten Pups lassen, geschweige denn in die Fußgängerzone gehen. Und als diese schlimme Zeit endlich vorbei war, war Mikos samt Pony verschwunden. Ausgeträumt der Traum vom Zirkusleben.

CORINNA STEGEMANN