Ein dämonisierter Prozess

Marc Dutroux vor Gericht: Belgien erwartet vom Verfahren mehr als ein Urteil über einen Angeklagten. Das medial überfrachtete Verfahren soll das Land überhaupt von allen Plagen befreien

VON DANIELA WEINGÄRTNER

Welche Funktion hat das Gerichtsverfahren gegen Marc Dutroux und drei Komplizen tatsächlich? Dient es, wie der französischsprachige Le Soir schrieb, als exorzistisch anmutendes Unterfangen, das das Land von seinen Dämonen befreien soll? Oder soll es klar umrissene Schuldvorwürfe gegen vier Angeklagte so lange beleuchten, bis die zwölf Geschworenen am Ende einstimmig sagen können: schuldig im Sinne der Anklage – oder eben nicht schuldig?

Die Öffentlichkeit hat diese Frage längst für sich beantwortet – sowohl in Belgien als auch im Rest der Welt. Im Ausland steht das kleine Land seit acht Jahren synonym für Pädophilie – mit Verbindungen in höchste Regierungskreise. Der Prozess, so die einhellige Erwartung, soll nicht nur dieses Übel mit der Wurzel ausreißen, sondern gleichzeitig mit allem aufräumen, was Belgien seit Jahren quält: Kompetenzchaos, unklare politische Zuständigkeiten, unfähige Ermittlungsbehörden, unzufriedene Polizeibeamte sowie eine geltungssüchtige und sich verselbstständigende Gendarmerie.

Jedes Mal, wenn im Lauf der sieben Jahre dauernden Ermittlungen im Fall Dutroux eine neue Panne passierte, reagierte die Öffentlichkeit mit dem gleichen pauschalisierenden Aufschrei. Ob Dutroux bei einem Gerichtstermin fliehen konnte, ob Akten verschwanden oder bekannt wurde, dass der pädophile Verbrecher jahrelang aus der Haft heraus ungestört mit einem minderjährigen Mädchen korrespondiert hatte – die Reaktion von Medien, empörten Bürgern und ausländischen Journalisten klang stets gleich: Wann endlich beginnt der Prozess, damit diese Schweinerei ein Ende hat?

Indem alle Beobachter den Prozess auf je eigene Weise überfrachteten, ihm die Funktion zumaßen, Belgiens Dämonen ein für allemal auszutreiben, trugen sie genau zu jenem Effekt bei, der dann wieder zu neuen Verschwörungstheorien Anlass bot: Die Ermittler konnten die Klageschrift deshalb so lange nicht fertig stellen, weil sie Belege für das mysteriöse pädophile Netzwerk in höchsten Kreisen suchten. Aber nach sieben Jahren wussten sie nichts, was nicht schon zwei Monate nach Dutroux’ Festnahme aktenkundig gewesen wäre. Doch auch diese ergebnislose Recherche wurde vom Gros der Beobachter als neuerlicher Beleg dafür genommen, dass die eigentlichen Drahtzieher irgendwo ganz oben sitzen – und die Ermittlungen behindern.

Marc Dutroux, der ein erstklassiger Menschenverführer und begabter Manipulator ist, hat kurz vor Prozessauftakt sein Schweigen gebrochen und strickt nun ebenfalls mit an der Verschwörungslegende: Er sei nie der Anführer gewesen, nur ein Rädchen im Getriebe. Er schiebt die Verantwortung seinem Mitangeklagten zu, dem zwielichtigen Geschäftsmann Michel Nihoul. Der habe ihn benutzt, sei aber seinerseits von anderen auch nur instrumentalisiert worden.

Dieses dumpfe Geraune eines chronischen Lügners und gerichtsbekannten Kinderquälers wird den Konspirationstheorien neue Nahrung geben. Da sie nicht Gegenstand der Anklage sind, hat sich der Prozess für viele Bürger schon als Farce erwiesen, ehe er überhaupt begonnen hat. Umfragen belegen, 88 Prozent der Belgier glauben nicht, dass die Wahrheit in Arlon ans Licht kommen werde. Was noch schlimmer ist: Die Eltern der getöteten Mädchen Melissa und Julie, die Familien Russo und Lejeune, bezeichnen den Prozess in Interviews schon jetzt als „Nebelbombe“. Sie werden der Verhandlung fernbleiben.

Damit fehlt dem Prozess die wichtigste Legitimationsgrundlage: der Glaube der Opfer an die Sühnefunktion der Justiz. Es wäre ein Wunder, wenn es den Richtern und Geschworenen unter diesen Bedingungen gelingen würde, das Verfahren sachlich und obendrein handwerklich sauber zu Ende zu bringen.

Sollten sie es doch zustande bringen, könnte die Urteilsverkündung allenfalls zum Beginn des Heilungsprozesses einer Nation werden. Die Dämonen Belgiens sind nicht die bösen Buben in den höchsten Kreisen, sondern die banalen Plagen eines (auch sprachlich) zersplitterten Landes: Misswirtschaft, Geltungssucht, Kompetenzchaos und Korruption.