Ohio wartet auf die Zukunft

AUS MARIETTA/OHIO MICHAEL STRECK

Terry Anderson ist ein getriebener Mann. Man spürt, dass er noch etwas bewegen muss in seinem Leben. Seine Stimme ist von einer besonderen Kraft beseelt. Seine Worte sind scharf. Sein Körper ist angespannt. Er trägt Jeans, Cowboystiefel und ein abgetragenes Jackett. Mit seiner kräftigen Fleischerstatur steht er vor Studenten im Vorlesungssaal einer Schule von Marietta, einer Kleinstadt im Südosten des Bundesstaats Ohio, und geißelt Armut und Umweltverschmutzung. Er erzählt vom See seiner Kindheit, dessen Fische man noch immer essen kann. Er spricht von der hohen Zahl von Krebs- und Asthmakranken und klagt den Gouverneur und George Bush an, nichts gegen die „dirty soup“, wie sie hier die giftige Luft nennen, zu unternehmen. „Dies ist ein unerhörter Zustand“, donnert er.

Anderson ist nach einer langen Odyssee dorthin zurückgekehrt, wo er geboren wurde und aufgewachsen ist: in das Ohio-Tal, das Armenhaus und Umweltnotstandsgebiet westlich der Appalachen. Anderson war Marineinfanterist in Vietnam. Nahostkorrespondent in Beirut. Sieben Jahre Geisel. Journalismusprofessor in New York. Und nun will er Politiker werden, Abgeordneter im Landesparlament von Ohio.

Man ahnt, welche Lebensstation die Studenten neugierig hierher gelockt hat. Während er spricht, raunt ein noch Uneingeweihter, ob er die „Libanon-Geisel“ sei. Ein anderer nickt. Diese dunkle Zeit seines Lebens, als er 1985 von schiitischen Fundamentalisten entführt worden war, erwähnt Anderson mit keinem Wort. Er spricht auch nicht von Krieg und Terror, umso engagierter wirbt er für strengere Umweltgesetze, die neue Arbeitsplätze schaffen sollen. Eine für Amerika ungewöhnliche Formel, wie er selbst zugibt.

In Marietta wird nach jedem Strohhalm gegriffen. Arbeit ist hier Mangelware, obwohl Chemie- und Metallunternehmen außerhalb der Stadt am Ohio einen kilometerlangen Industriekorridor bilden. Viele Fabriktore sind mittlerweile geschlossen. Nutzlose Eisenbahngleise verrosten im Straßenbett. Alte Schlote stillgelegter Anlagen ragen in den Himmel. Und trotzdem ist die Luft von einem beißenden Geruch erfüllt. Betriebe, die noch produzieren, weigern sich hartnäckig, Filter zu installieren. Und Kohle ist noch immer Brennstoff Nummer eins. Auf dem Fluss, an dessen Ufern die Stadt erbaut wurde, transportieren lange Kähne den schwarzen Rohstoff und zeugen von einer glorreichen Vergangenheit. Heute ist die Region die ärmste im ganzen Bundesstaat. 27 Prozent der Bevölkerung leben unter der Armutsgrenze. Die Arbeitslosigkeit beträgt 15 Prozent.

Ohio galt immer als Inbegriff für das Mittelschichtsamerika, sagt Anderson. Sichere Jobs und Renten, Reihenhaus in Suburbia, zwei Autos vor der Garage und ausreichend Geld für die Ausbildung der Kinder. „Die Republikaner waren hier zu lange an der Macht und haben diesen guten Ruf zerstört. Heute sind wir einer der unattraktivsten Bundesstaaten.“ Dazu wurde er noch zum Gespött des ganzen Landes, als sein marodes Kraftwerksnetz im vergangenen August den größten Stromausfall in der US-Geschichte auslöste, der den ganzen Nordosten von Cleveland bis New York lahm legte. Ohio, der „Roststaat“.

Auch Marietta wartet auf die Zukunft. In den Kneipen der 14.000-Einwohner-Stadt hängen Schwarzweißfotos aus der Zeit, als hier noch hochseetaugliche Schiffe gebaut wurden, Eisenbahnwaggons über die stählernen Brücken rollten, der Ort wichtiger Umschlagplatz für Kohle war und im mondänen Hotel Lafayette die Holzbarone wohnten.

In den drei Hauptstraßen finden sich Geschäfte mit Nippes, mit dem anderswo kein Cent zu holen wäre. Hier überleben die Händler, da genug Menschen aus dem Rest Ohios kommen, um in der guten alten Zeit zu schwelgen. Hier widersetzen sich die Menschen jedem Gesundheitskult und Modetrend. Hier wird noch überall geraucht, tragen alle Männer karierte Hemden, schließen Restaurants um neun, sind Schwarze und Latinos so selten wie europäische Autos, sprechen Kellnerinnen Gäste mit „Honey“ an. Und ziehen die Menschen weg, wenn sie können.

Shane Danford kam zurück. Vor sechs Jahren eröffnete der 35-Jährige ein Schokoladengeschäft an der Front Street und erfüllte sich damit einen Traum. Siebzig verschiedene Sorten Pralinen, die er selbst herstellt, hat er im Angebot. Sogar auswärtige Kunden beliefert er. Davon wird er nicht reich, aber es reicht zum Leben. Für Danford ist Marietta eine „Perle im Schmutz“. Er schwärmt von den ziegelroten Lagerhäusern, der kompakten Innenstadt aus Backsteingebäuden, die so auch in Mittelengland liegen könnte und in der er zu Fuß gehen kann. „Die Leute übersehen ihre Schönheit.“

Aber wer kann ihnen das verübeln, wenn sie hier keine Perspektive haben, meint Danford. Immerhin war Marietta die erste Stadt außerhalb der 13 Gründungsstaaten der USA. Und so hofft er wenigstens auf mehr Touristen. Und darauf, dass Bush im Herbst aus dem Amt gejagt wird, weil er Amerika in einen falschen Krieg geführt hat.

Mit dieser Meinung ist er hier im tiefen republikanischen Hinterland so ziemlich allein. Doch das Thema Krieg ist längst vom alles beherrschenden Thema „Jobs“ überlagert. Der Irak ist nicht völlig vom Radarschirm verschwunden, erzählt Don Murray, der ein paar Häuser weiter eine Art Naturkostladen betreibt, doch die Sorge um die eigene Zukunft dominiert. „Wenn ich sehe, dass Leute kein Essen auf den Tisch kriegen, macht mich das wütend.“ Der kleine, ältere Mann mit Bart und Brille hat immer für die Republikaner gestimmt. Doch diesmal schwankt er.

John Kerry mag er zwar nicht, der ist ihm zu liberal. Aber John Edwards seine Stimme zu geben könnte er sich vorstellen. Seine beiden Söhne sind bald im College-Alter, doch Murray weiß nicht, wie er die Ausbildung finanzieren soll. Also schimpft er auf die Regierung in Washington, die Milliarden für Irak und Afghanistan übrig hat, während das öffentliche Schulsystem verwahrlost. „Wir brauchen das Geld dringend im eigenen Land.“ Ein Satz, den man hier oft hört.

Draußen vor seinem Laden, am Rathausplatz und die Front Street zum Fluss hinunter wirkt Marietta an diesem Februartag wie eine Geisterstadt. Bürgersteige sind nur noch Flächen für Parkuhrständer und allenfalls von Müll bevölkert. „Der Eindruck trügt. In den Sommermonaten schieben sich hier die Touristen entlang“, sagt Tina Trombley, die Leiterin der örtlichen Umweltgruppe „Recover“. Trügerisch ist auch der Eindruck, den das historische Flair auf Kurzbesucher macht. Hinter der Kleinstadtkulisse versteckt sich einer der dreckigsten Landkreise Amerikas. Von insgesamt 3.086 Counties belegt Marietta Platz 20 in Sachen Luftverschmutzung.

Wenn es nach Tina Trombley ginge, hätte sich das längst geändert. Die unscheinbare Frau und ihre 120 Mitstreiter schreiben seit Jahren Petitionen, organisieren Bürgerversammlungen und drängen die Stadtverwaltung zum Handeln. Zwölf Jahre passierte nichts. Der republikanische Bürgermeister blockierte jede Initiative aus Angst, sie könnte ein „Jobkiller“ sein. Doch nun hat Trombley einen neuen Hoffnungsträger. Das Stadtzepter hält seit Januar ein junger, veränderungsfreudiger Demokrat in Händen, der den Industrie-Dinosauriern den Kampf angesagt hat: Michael Mullen.

Als eine seiner ersten Amtshandlungen verabschiedete der Stadtrat eine „Healthy Air“-Initiative. „Es geht um die Signalwirkung“, sagt Mullen. Der vom Country-Musiker zum Politiker gewandelte Mann glaubt daran, durch konsequenten Umweltschutz neue Jobs schaffen zu können. Das verarbeitende Gewerbe stirbt hier aus, sagt er. „Wir müssen neue Wege gehen.“ Ein „holistischer“ Wachstumspfad schwebt ihm vor, eine Mischung aus Ökotourismus und Umwelttechnologie. Er will Fahrradwege entlang dem Fluss bauen, Industriemuseen errichten und Firmen anlocken, die die Sanierung des Ohio-Tals als Herausforderung betrachten.

Große Töne, aber in Terry Andersons Ohren klingen sie wie Musik. Der zaghafte Wandel in Marietta ist für ihn Vorbote möglicher Veränderungen in ganz Ohio, wenn nicht gar in Washington. Der 56-Jährige ist mit Blick auf die Präsidentenwahl im November zuversichtlich. Auf seiner Werbetour durch Ohio hat er viel Zuspruch für die Demokraten erfahren. Noch nie hat er die Partei so geeint erlebt. Niemand hat gesagt, dem Bush-Herausforderer nicht seine Stimme geben zu wollen.

„Im Weißen Haus sitzen radikale Rechte, und die müssen weg. Das höre ich überall. Und Ohio ist weiß Gott keine liberale Hochburg, sondern eher konservativ“, sagt Anderson später am Abend am Tresen einer Blueskneipe im Nachbarort. Es ist seine eigene Bar. Hier und auf dem unweit liegenden Landsitz will er irgendwann den Lebensabend genießen. Nach seiner Freilassung aus der Geiselhaft hatte er die iranische Regierung verklagt, die hinter der Entführung steckte, und bekam von der US-Regierung mehrere Millionen Dollar Schadenersatz. Die Summe wurde aus eingefrorenem iranischem Vermögen bezahlt. Er hätte sich zur Ruhe setzten können. Stattdessen finanzierte er den Bau von zwanzig Grundschulen in Vietnam, vergibt er Ausbildungshilfen an arme Familien in Ohio. Auch das reichte ihm nicht. Er beschloss, in die Politik zu gehen. Nach all den turbulenten Jahren reagierte seine Frau anfangs etwas bestürzt. Das gibt er zu. „Aber die bequemen Jahre müssen noch etwas warten.“