Ein Herz für Rentner

In der künftigen Verfassung werden jede Menge soziale Ziele aufgelistet. Wie diese erreicht werden sollen, bleibt unklar

aus Brüssel DANIELA WEINGÄRTNER

Die Europäische Union ist ein wirtschaftspolitischer Riese, jedoch ein außenpolitischer Zwerg – dies wird der EU oft von jenen Kritikern vorgehalten, denen Europas Rolle in der Welt am Herzen liegt. In den vergangenen Jahren ist aber auch deutlich geworden, dass der Wirtschaftsriese noch mit einem anderen Ungleichgewicht zu kämpfen hat: Die soziale Einbindung der Marktwirtschaft findet auf Gemeinschaftsebene nicht statt. Während die Wettbewerbs- und Binnenmarktregeln zentral und damit wirksam in Brüssel kontrolliert werden, geht in der Sozialpolitik jedes Land eigene Wege. Mindeststandards gibt es nicht.

Mario Monti, den Brüsseler Wettbewerbskommissar, kennt jeder interessierte Zeitungsleser, er kann dafür sorgen, dass eine Firma Milliarden an staatlichen Beihilfen zurückzahlen muss. Aber wer weiß schon, wofür Anna Diamantopoulou zuständig ist? „Soziale Fragen“ heißt das Ressort der Griechin, doch außer Podiumsdiskussionen zum Thema Arbeitslosigkeit oder Diskriminierung hat sie wenig zu tun – ihr politischer Gestaltungsspielraum geht gegen null.

Konventspräsident Valery Giscard d’Estaing wollte die soziale Frage zunächst nicht auf die Tagesordnung seines Reformkonvents setzen. Er beauftragte mehrere Arbeitsgruppen, Elemente der neuen Verfassung im kleinen Kreis zu diskutieren. Die Gruppe unter Leitung des deutschen Sozialdemokraten Klaus Hänsch beschäftigte sich mit dem Thema „Wirtschaftspolitik“ und berührte in ihren Diskussionen natürlich auch soziale Fragen. Am Ende allerdings konnte sie sich nicht auf eine einheitliche Stellungnahme einigen. Besonders umstritten war die Frage, ob „Elemente wie Vollbeschäftigung, sozialer Fortschritt, soziale Marktwirtschaft“ in den vorderen Artikel der Verfassung aufgenommen werden sollen, der die Ziele der Europäischen Union beschreibt.

Inzwischen hat das Präsidium des Konvents einen Textvorschlag gemacht, der „nachhaltige Entwicklung auf der Grundlage von ausbalanciertem Wirtschaftswachstum und sozialer Gerechtigkeit“ sowie „Vollbeschäftigung“ als vorrangige Ziele der Union benennt. Die Änderungsvorschläge, die Konventsmitglieder hierzu einreichten, füllen mehrere eng beschriebene Seiten. Ziele wie „Ausmerzung extremer Armut“ oder „Kampf gegen Armut und soziale Ausgrenzung“ werden ebenso gefordert wie Verbraucher-, Tier- oder Kinderschutz.

Auch die Arbeitsgruppe „Soziales Europa“, die auf Druck des Plenums doch noch unter Leitung des griechischen sozialistischen Europaparlamentariers Giorgios Katiforis zu Stande kam, möchte die Liste der sozialen Ziele im vorderen Teil der Verfassung erheblich verlängern. „Sozialer Frieden, wirtschaftlicher, sozialer und territorialer Zusammenhalt, lebenslanges Lernen, ein hohes Maß an sozialem Schutz“ sind nur einige der Zusagen, die die Arbeitsgruppe den Bürgern Europas machen möchte.

Die meisten Regierungsvertreter im Konvent aber wollen verhindern, dass die EU ein starkes Bekenntnis zum Sozialstaat abgibt, Vollbeschäftigung als Politikziel in die Verträge schreibt oder gar die Sozialstandards in den Mitgliedsstaaten auf höchstem Niveau angleicht. Sie wollen weitere Belastungen für ihre strapazierten Budgets vermeiden. Außerdem gehört Sozialpolitik zum Kernbereich nationalstaatlicher Gestaltung. Von einer Angleichung der Rentensysteme, Bildungseinrichtungen und Krankenkassen sind die 25 EU-Mitgliedsstaaten ebenso weit entfernt wie von der Harmonisierung ihrer Rechtssysteme.

Die übrigen Gegner eines solch langen Katalogs – und zu ihnen gehören fast alle Konventionalisten, die nicht der sozialistischen Familie zuzurechnen sind – sehen in einem verfassungsmäßig verankerten Bekenntnis zum sozialen Europa einen Wunschzettel, der bei den Bürgern Ansprüche weckt und Enttäuschungen vorprogrammiert.

Deshalb sieht auch die Arbeitsgruppe Katiforis’ die so genannte „offene Koordinierungsmethode“ als einzige Möglichkeit, die Positionen auf Gemeinschaftsebene anzunähern. Das bedeutet, dass die Regierungschefs in sehr allgemeiner Form sozialpolitische Ziele vorgeben, denen sich die Mitgliedsstaaten möglichst annähern sollen. Ein Kontroll- oder Sanktionsmechanismus existiert nicht. Deshalb zeigt die Methode wenig Wirkung, wie jedes Jahr beim Frühjahrsgipfel deutlich wird, der sich mit Wirtschaftswachstum und Beschäftigung befasst.

Beim Frühjahrsgipfel letzten Monat in Brüssel unter griechischer Präsidentschaft beschlossen die Regierungen, eine „Task Force Beschäftigung“ einzurichten, über deren Arbeit in einem Jahr ein Bericht vorliegen soll. Sie nahmen ferner einen Bericht über „stärkere Anreize in der Sozialschutzpolitik“ zur Kenntnis und beschlossen, ein neues Konzept der EU-Industriepolitik zu entwickeln. Das einzig konkrete Ergebnis des langen Palavers war die schriftliche Verpflichtung, bis zum Sommer 2004 eine EU-weit gültige Krankenversicherungskarte einzuführen, mit der die Bürger problemlos im Ausland einen Arzt aufsuchen können.

Das Kernproblem fast aller Mitgliedsländer, die hohe und weiter steigende Arbeitslosenquote, ist mit der Methode offener Koordinierung nicht zu lösen. Doch natürlich wird Vollbeschäftigung auch nicht dadurch erreicht, dass sie in der Verfassung steht. Immerhin hat die leidenschaftlich geführte Diskussion über das „soziale Europa“ deutlich gemacht, dass viele Konventsmitglieder sich nicht damit zufrieden geben wollen, in einem florierenden Binnenmarkt ohne soziale Verpflichtungen zu leben.

Für sie bedeutet ein deutliches Bekenntnis zum Sozialstaat, dass Europa die Werte verteidigt, die in der Union in den Nachkriegsjahren gewachsen sind. So betrachtet, verdient dieses Gefecht um Worte mehr Beachtung als der Dauerstreit um den Gottesbezug in der Verfassungspräambel.