Halbes, nichts Ganzes

Der neue Sammelsuriumband der Forschungsstelle Osteuropa ist da: „Kommerz, Kunst, Unterhaltung“ im Slawischen werden unter diverse Lupen genommen

Die Unmittelbarkeit und emotionale Glaubwürdigkeit des Schokoriegels

Der Zusammenbruch der ehemaligen Sowjetunion veränderte alle Teile der Gesellschaft: Diese Entwicklung gehört zweifellos zu den Schwerpunkten der Bremer Forschungsstelle Osteuropa.

Zwar ist diese zur Zeit auch tief in die nervenaufreibenden Rückgabeverhandlungen um die so genannte Baldin-Sammlung involviert. Doch die jüngste Publikation des Instituts widmet sich nicht den Verwicklungen um die in den Kriegswirren verschollene Spitzenkunst der Vergangenheit, sondern der aktuellen Popularkultur in den slawischen Ländern. Der Titel des in der Reihe „Analysen zur Kultur und Gesellschaft im östlichen Europa“ erschienenen Bandes: „Kommerz, Kunst, Unterhaltung“.

Ein problematischer Titel, denn wenn überhaupt etwas, so steckt er doch ein ausgesprochen weites Feld ab, das an den Rändern ausfranst. Zugegeben, Hartmut Trepper nähert sich dem schwammigen Begriff Popularkultur in seiner Einleitung heuristisch. Dessen spezifische Unschärfe aber zu beseitigen, gelingt ihm nicht. Und so spiegelt sie sich in der relativen Beliebigkeit der Einzelthemen: Sie sind breit gestreut, ohne alles zu erfassen. Nicht zur Sprache kommen Bildende Kunst und Fotografie. Dafür aber gibt es Beiträge zur Literatur. Polnischer HipHop soll die Sparte Jugendkultur abdecken, der Film ist natürlich auch vertreten. Vier der vierzehn Aufsätze beschäftigen sich mit dem Medium Fernsehen.

Das interessanteste Kapitel ist dabei – trotz kaum überraschender Ergebnisse– das über die Reklame: Dieses Ur-Element des Kapitalismus hatte in der Sowjetunion kaum stattgefunden. Werbung erweist sich als das Medium, das am meisten auf eine Ablösung des kommunistischen Kollektivgedankens drängt.

Denn Konsument ist erst, wer sich etwas wünscht: Und das können nur Individuen. Dadurch lege gerade die Reklame „alle“ jene Träume und Sehnsüchte frei, „die sich in der Seele der Menschen“ in der „Stagnationszeit angesammelt hatten“, schreibt Ekaterina Salnikova in ihrem Beitrag über die russische Fernsehwerbung in der ersten Hälfte der 1990er Jahre. Das Untier, das sie geweckt habe, heißt „Gier nach Erfolg und Reichtum“.

Salnikovas Befund: Gerade die Werbung passe sich an die osteuropäischen Realitäten an. Beleg dafür: Der Vergleich unterschiedlicher Spots für identische Schokoriegel. Während in Deutschland ein „süßlicher leichter Flirt am Arbeitsplatz“ als Kaufanreiz für die klebrig-braune Materie gedient habe, sei es der russischen Version gelungen, „heimische Unmittelbarkeit und emotionale Glaubwürdigkeit“ herzustellen. Selig, wer Klischees noch so schön in Klischees beschreiben kann.

So erhellen die versammelten Studien zwar Einzelaspekte. Doch gerade weil der Band keinen enzyklopädischen Ansatz hätte verfolgen können, hätte sein Hauptinteresse in der Systematisierung und Bündelung der Phänomene bestehen müssen. Dazu aber hätte es mehr herausgeberischen Mutes zur These bedurft: Ohne sie bleibt nur ein seltsam unmotiviertes Sammelsurium. BeS/ Koy

Forschungsstelle Osteuropa (Hg.): Kommerz, Kunst, Unterhaltung, Edition Temmen, 341 Seiten, 20,90 Euro