SPD entdeckt Behinderte

Gestern war ihr Protesttag: Mehrere hundert Menschen mit Behinderungen demonstrierten für ein Gleichstellungsgesetz und einen Behindertenbeauftragten. Die größte Partei im Land schloss sich pünktlich einen Tag zuvor ihren Forderungen an

taz ■ Was so eine Wahl nicht alles bewirkt: Keine drei Wochen mehr, bis die Volksvertreter zur Disposition stehen – und schon kommt Bewegung in Angelegenheiten, die vorher unbeweglich schienen. Keine 24 Stunden vor dem gestrigen Protesttag gegen Diskriminierung behinderter Menschen und dem elften Bremer Behindertenparlament – all das organisiert vom „Arbeitskreis Bremer Protest“ –, einen Tag also vor dem so zentralen Tag für Menschen mit Behinderungen hat die SPD-Fraktion beschlossen, nun doch einen Landesbehindertenbeauftragten für notwendig zu halten. Das tat sie bisher nicht. Rein zufällig ist die Forderung nach einem solchen Beauftragten eine der wichtigsten für die TeilnehmerInnen der gestrigen Aktionen. Dass nun auch die stärkste Partei im Land „just vor unserem 6. Mai, just vor der Wahl“ umschwenke, bemerkte Horst Frehe, der nachmittags beim Behindertenparlament in der Bürgerschaft präsidierte, mit süffisantem Lächeln. „Aber wenn das geholfen hat, das Denken voranzubringen, freut uns das natürlich.“

Frehe, Richter am Sozialgericht, hat an dem jetzt ein Jahr alten Bundesgleichstellungsgesetz mitgearbeitet. Der derzeitige „Leiter der nationalen Koordinationsstelle für das Europäische Jahr der Menschen mit Behinderung“ berichtete von ersten Erfahrungen mit dem Bundesgesetz – und die sind schlecht: „Die Umsetzung läuft sehr schleppend.“ Umso wichtiger sei es, dieses Gesetz „auf Landesebene runterzubrechen.“ 2004 soll in Bremen ein Gleichstellungsgesetz in Kraft treten. Aber, so Frehe weiter, „das nutzt alles nichts, wenn es nicht eine Person gibt, die die Umsetzung kontrolliert.“

„Ganz klasse“ fand gestern Frank Pietrzok, sozialpolitischer Sprecher der SPD, die eigene Partei. Man habe in den vergangenen Wochen die Behindertenbeauftragten anderer Bundesländer eingeladen, dann das Amt auch für Bremen als passend befunden. Bisher hatten sich die Genossen in diesem Punkt bedeckt gehalten. Die Grünen freuten sich gestern auch: „Schön, dass die SPD jetzt die Forderung der Grünen unterstützt.“ Sie hatten den Landesbeauftragten nämlich längst im Programm. Die CDU blieb indes bei ihrer Position: Beauftragter ja, aber dann bitte ein Abgeordneter der Bürgerschaft, ein Parteimensch also. „Das lehnen wir ab“, betonte Dieter Stegmann, stellvertretender Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft Hilfen für Behinderte (LAGH): „Die Unabhängigkeit, die wir für dieses Amt für unabdingbar halten, ist mit der Zugehörigkeit zu einer Partei unvereinbar.“

Die TeilnehmerInnen konnten gestern wählen, welche fünf Forderungen ihnen die wichtigsten seien – neun standen zur Wahl. Neben Gesetz und Beauftragtem steht der Zugang zu Bus und Bahn ganz oben auf der Liste. Das sei zwar vor allem bei der BSAG „relativ weit gediehen“, so Wilhelm Winkelmeier von „Selbstbestimmt leben“. Andere Busgesellschaften hätten hingegen noch Nachholbedarf.

Weiter forderten die TeilnehmerInnen mehr Wohnungen für RollstuhlfahrerInnen und mehr Assistenz. Auf Platz acht von zehn landete die Forderung „Für das Recht auf unbehinderte Sexualität“ – sie sei „relativ neu und sehr kontrovers“, so Wilhelm Winkelmeier. Dahinter verbirgt sich die Forderung nach „Sex auf Krankenschein“, die staatliche Finanzierung von Sexualhilfen für behinderte Menschen durch Prostituierte. „Die meisten wünschen sich Beziehung, Liebe, Zuneigung“, sagt dazu die Behindertenpädagogin Kassandra Ruhm, „dass ihr Körper, der sonst abgewertet wird, gemocht wird. Das kriegt man nicht von Prostituierten.“ Diese Forderung zeichne „ein unheimlich beschissenes Bild von uns.“

Susanne Gieffers