Die Grenzen des Wissens

Für eine wirkliche Nachbarschaft braucht man Informationen von der andern Seite

Józef Chałasiński, der Klassiker der polnischen Soziologie, hat ein Grenzgebiet einmal als „Gebiet einer Bevölkerung“ definiert, „die auf beiden Seiten der Grenze lebt, über wirtschaftliche, familiäre und kulturelle Beziehungen miteinander verbunden ist und nur durch eine politische Grenze voneinander getrennt ist“.

Im Sinne dieser Definition ist die deutsch-polnische Region entlang der Oder und der Neiße kein Grenzgebiet. Schließlich mangelt es ihr an den für ein „altes“ Grenzgebiet charakteristischen Merkmalen eines über Generationen gewachsenen Verhältnisses, es fehlen also kulturelle Verflechtungen, die Kenntnis der anderen Sprache und des Lebensstils der anderen Seite. Noch immer müssen wir feststellen, dass die größte Schwierigkeit, der wir seit zehn Jahren tagtäglich begegnen, das Gefühl der Fremdheit und des Unwissens über den andern ist. Klaus Bachmann hat dazu einmal gesagt: „Die Deutschen wissen nichts über die Polen, und die Polen wissen über die Deutschen nur, was sie wissen wollen.“

Die politische Öffnung in den Neunzigerjahren haben die Einwohner des Grenzgebiets allerdings ungewöhnlich intensiv genutzt. Regionale Verwaltungen, lokale Eliten, zahlreiche Bürgerinitiativen und Journalisten haben tausende gemeinsame Unternehmungen, Projekte, Begegnungen und Veranstaltungen ins Leben gerufen und damit die Voraussetzungen für eine gesellschaftliche Annäherung geschaffen. Diese Annäherung ist auch das beste Mittel gegen Vorurteile und Stereotype, deren Nährboden ja gerade der Mangel an Information und das Fehlen eigener Erfahrungen sind. Das gilt auch für die Erfahrungen, die bei den Besuchen auf der anderen Seite gemacht werden. Noch immer begegnen sich die Menschen für gewöhnlich auf den grenznahen Märkten, in den Einkaufszentren, an den Tankstellen, im Restaurant. Aber immer häufiger unternehmen sie auch Ausflüge in die nähere Umgebung oder gehen ins Konzert.

Ein polnisches Sprichwort sagt: „Vor Nachbarn kann man nichts verbergen.“ Davon kann im deutsch-polnischen Grenzgebiet noch keine Rede sein. Schon die mangelnde Sprachkompetenz führt dazu, dass Gespräche, die sich um mehr als Einkauf drehen, übersetzt werden müssen.

Auch der größte Teil der täglichen Informationsquellen bleibt der Mehrheit der Bewohner in der Grenzregion verschlossen. Das betrifft zum Beispiel die Radio- und Fernsehsendungen der anderen Seite, obwohl es technisch kein Problem ist, sie zu empfangen.

Die wichtigsten Informationsquellen sind demnach noch immer die eigenen, vor allem die lokalen Medien. Die widmen zwar grenzüberschreitenden Themen immer mehr Aufmerksamkeit, greifen dabei aber noch viel zu oft auf Artikel von Nachrichtenagenturen zurück statt auf Berichte ihrer Korrespondenten in den jeweiligen Hauptstädten.

So kommt es, dass es manchmal einfacher zu erfahren ist, welche Probleme der deutsche Kanzler oder der polnische Premierminister hat, als etwas darüber zu lesen, wie die Nachbarn zwanzig Kilometer weiter leben – wenn auch auf der anderen Seite der Grenze –, was für sie wichtig ist, welche Probleme und Erfolge sie haben, was sie beschäftigt, wie sie in Wahlen abstimmen und warum, wie sie ihre Freizeit verbringen, was sie lesen oder sich im Fernsehen anschauen.

Eine Berichterstattung, die sich neben den Ereignissen deutsch-polnischer Zusammenarbeit auch tiefer gehenden Analysen der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Veränderung widmet, trifft darüber hinaus auf ein durchaus nicht ungewöhnliches Hindernis. Auch Journalisten repräsentieren in der Mehrzahl den gesellschaftlichen Durchschnitt. Die Kenntnis der Sprache und das Wissen über die andere Seite sind also oft nicht größer als die ihrer Leser und Hörer. Dies zu verändern, hat sich inzwischen eine Gruppe polnischer und deutscher – zumeist zweisprachiger – Journalisten zusammengefunden, aus denen unter anderem der Journalistenclub „Unter Stereotypen“ hervorgegangen ist. Sie versuchen, eine Alternative zu den vorherrschenden Themen zu bieten, also zu Prostitution, Schmuggel oder den Staus an den Grenzübergängen.

Besonders schmerzlich ist neben der dürftigen Berichterstattung auch der Mangel an Institutionen und Programmen der politischen Bildung. Es gibt kaum Angebote, die nicht aktionistisch, sondern konsequent und systematisch den Einwohnern des Grenzgebiets, der Verwaltung, den verschiedenen Akteuren der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit und natürlich auch den normalen Bewohnern, unabhängig von Alter und Bildung, ein tiefer gehendes Wissen über den Nachbarn in der gemeinsamen Region vermitteln. Es ist auch erstaunlich, in welch geringem Grad die Mehrheit der vorhandenen Hochschulen die faszinierenden Prozesse der Veränderung begleiten.

Das deutsch-polnische Grenzgebiet ist eine Region, in der unabhängig vom guten Willen und der Öffnung zu den Nachbarn hin noch viel zu tun ist. Das ist vor allem die Aufgabe derer, die sowohl mit der Sprache als auch den Realitäten auf der anderen Seite der Grenze vertraut sind. ANDRZEJ KOTULA, STETTIN

aus dem Polnischen von Uwe Rada