Neue Nachbarschaft

Das deutsch-polnische Grenzgebiet ist keine gewachsene, sondern eine harte Grenze

von CHRISTIAN SEMLER

Als 1944 die Republik Polen wiedererstand, wurde sie aufgrund alliierter Beschlüsse wie auf Rädern Richtung Westen transportiert. Polen verlor seinen historischen Osten, die „Kresy“, und gewann, mit Ausnahme des nördlichen Ostpreußen, den Osten Deutschlands. Die Grenzziehung an Oder und Neiße entsprang primär militärischem Sicherheitsdenken und war von der Ideologie der „wiedergewonnenen Gebiete“ verbrämt. Die Zeche zahlte jenseits des Bugs wie jenseits der Oder die Bevölkerung. Sie wurde in beiden Fällen vertrieben.

Bis heute hat die Oder-Neiße-Grenze viel von ihrem harten, trennenden Charakter behalten. Obwohl sie mit dem nahen Beitritt Polens zur Europäischen Union ihre Funktion als Wächter der EU-Außengrenze verlieren wird, haften ihr dennoch weiterhin einige der Anomalien an, die mit ihrem Entstehen verbunden sind. Deren wichtigste ist die Beziehungslosigkeit der Bevölkerungen beiderseits der Flüsse. Die Neusiedler sahen ihre neue Heimat lange als Provisorium an. Sie hatten weder emotionalen noch intellektuellen Zugang zu den Hinterlassenschaften der deutschen Kultur, es gab keinerlei Zonen der Zweispachigkeit wie an den Westgrenzen Deutschlands. Auf der deutschen Seite hingegen, wo viele der ehemaligen Einwohner der deutschen Ostprovinzen – oft in Grenznähe – angesiedelt wurden, sorgte eine rigide Politik der DDR-Regierung dafür, dass jede versöhnende polnisch-deutsche Aussprache, die das gemeinsame Vertreibungsschicksal thematisierte, unterblieb.

In den 70er-Jahren hatte die DDR-Regierung – auch als Antwort auf die Annäherung Polens und der Bundesrepublik – die Grenze zu Polen für den visumfreien Verkehr geöffnet, eine Maßnahme, die nach der Legalisierung der Gewerkschaft Solidarność 1980 rückgängig gemacht wurde. Die Ergebnisse dieser Öffnungspolitik waren ambivalent. Eine große Zahl polnischer Arbeitskräfte strömte in die grenznahen Industriebetriebe, die unter chronischem Arbeitskräftemangel litten, so zum Beispiel in die Textilbetriebe Gubens. Nachbarschaftliche Verbindungen zwischen den geteilten Städten an Oder und Neiße wurden geknüpft, Ehen (fast durchweg zwischen polnischen Frauen und DDR-Männern) eingegangen. Aber dieser Honeymoon führte zu keiner Verklammerung, zu keinem kulturellen oder sozialen Austausch. Die in Polen Mitte der 70er-Jahre einsetzende Wirtschaftskrise tat ein Übriges, um die DDR-Bevölkerung gegen den Abkauf knapper Güter durch die polnischen Besucher aufzubringen. Alte Stereotype mischten sich mit neuen und verbanden sich zum Syndrom der „polnischen Wirtschaft“.

Nach der Verhängung des von der DDR-Regierung heftig geforderten Kriegsrechts in Polen wurde die DDR-Bevölkerung für viele Polen zur Verkörperung all dessen, was an Deutschland als verabscheuenswürdig galt, die Bundesrepublik hingegen avancierte zum Sehnsuchtsland.

Die sozialistische Industrialisierung hatte im polnisch-deutschen Grenzraum zur Bildung industrieller Komplexe in einer vormals agrarisch dominierten und dünn besiedelten Zone geführt. Auf beiden Seiten zog diese Industriepolitik einen raschen Prozess der Verstädterung nach sich. Für beide Seiten hatte deshalb die Entindustrialisierung nach 1990 fatale Folgen, wobei die polnische Seite auf die Transformation in Richtung Markt und Kapitalismus insofern besser vorbereitet war, als die traditionellen kleinbürgerlichen Schichten dort – im Gegensatz zur DDR – niemals gänzlich beseitigt worden waren.

Der wesentlichste positive Faktor im Grenzgebiet ist der grundsätzliche politische Wandel „von oben“. Erstmals in der jüngeren Geschichte der deutsch-polnischen Beziehungen gibt es seit Beginn der 90er-Jahre einen Willen zur Kooperation, der sich in einem dichten Geflecht von Verträgen und gemeinsamen Kommissionen niederschlägt. Der anfängliche Paternalismus auf deutscher Seite ist dabei größerer Bereitschaft gewichen, die Polen als gleichberechtigte Partner zu behandeln.

Bei der Überwindung der harten Grenze gab es handgreifliche Schwierigkeiten. Trotz offizieller Brüderlichkeit war zu DDR-Zeiten so gut wie keine grenzüberschreitende Infrastruktur entwickelt worden. Tempo und Ausmaß des Wiederaufbaus von Brücken und Zufahrtswegen über Oder und Neiße blieben während der ganzen 90er-Jahre ein Gegenstand zäher Verhandlungen. Der koordinierte Einsatz von EU-Geldern erwies sich als so schwierig, dass gemeinsame regionale Entwicklungsprojekte die Ausnahme blieben. Dennoch wurden einige wichtige Projekte angeschoben, von denen die Gründung der Viadrina in Frankfurt samt dem Collegium Polonicum in Słubice Signalcharakter erhielten.

Es bleiben die Assymetrien. Zu allererst das Wohlstandsgefälle, das den Umgang auf gleicher Augenhöhe erschwert. Dann die Unterschiede in den politischen Entscheidungsprozessen zwischen einer zenralstaatlichen und einer föderativen Ordnung, die auch nach den polnischen Dezentralisierungsmaßnahmen fortbesteht.

Den Anstrengungen auf staatlicher Seite steht allerdings nichts Vergleichbares auf der Ebene der Zivilgesellschaften gegenüber. Wo gesellschaftliche Initiativen im Grenzgebiet wirksam sind, werden sie auf deutscher Seite häufig von zugewanderten westdeutschen Intellektuellen im Bündnis mit ehemaligen ostdeutschen Bürgerbewegten getragen, ohne jedoch die „Eingeborenen“ wirksam einbeziehen zu können. Auf polnischer Seite spürt man bei den regionalen und örtlichen Eliten stärkeren Pragmatismus und Aufgeschlossenheit, auch größeres Interesse an den deutschen politischen Verhältnissen. Zu beiden Seiten der Grenze dominiert allerdings bei der Mehrheit die Angst. Auf der westlichen die Angst vor billigen polnischen Arbeitskräften, auf der östlichen die Angst vor dem Ausverkauf polnischen Bodens und vor einer kalten Regermanisierung. Viel Zeit, Geduld und gute Nerven sind vonnöten – alles Mangelware auf beiden Seiten der Grenze.