Das Verbrechen im Hinterhof

Gebannt starrt Deutschland nach Belgien, wo gerade Marcel Dutroux der Prozess gemacht wird. So, und jetzt drehen wir uns mal um: An der deutsch-tschechischen Grenze blüht das Geschäft mit der Kinderprostitution. Es ist ein beiderseits geduldeter Skandal

VON ULRIKE BRAUN
UND MICHAEL BARTSCH

Kacenka war dreizehn, als sie das erste Mal zu einem Deutschen ins Auto stieg. „Was der eigentlich wollte, wusste ich anfangs gar nicht so recht“, erinnert sie sich heute, zwei Jahre später. Erst Freundin Zuzka habe sie damals aufgeklärt: eine Handmassage für 30 Euro, oralen Sex für 40 Euro oder Verkehr für 50 Euro. Richtigen Sex hatte ich aber mit den Deutschen nie“, erklärt Kacenka schnell. Meist seien die nämlich schnell per Hand befriedigt gewesen, behauptet sie.

Sie heißen Frank, Achim, Tom oder Bernd und kommen im Auto, auf dem Motorrad oder mit dem Fahrrad in die deutsch-tschechischen Grenzstädte. Denn dort, in den verfallenen Elendsvierteln, wo Armut und Ausweglosigkeit Nachbarn sind, dort lockt der Kick mit jungem Fleisch.

Wie zum Beispiel in Usti nad Labem, in der Maticnistraße, wo Kacenka und Zuzka zu Hause sind. „Hier in der Straße gibt es doch keine, die noch nicht mit einem Deutschen war.“ Wenn Kacenka „Deutscher“ sagt, dann meint sie eigentlich „Freier“.

„In Usti nad Labem ist die Prostitution unter den Roma weit verbreitet. Ja, auch die Prostitution Minderjähriger“, gibt der Minderheitenbeauftragte der Stadt, Jan Husak, zähneknirschend zu. Über 80 Prozent der rund 90.000 Roma in Usti sind arbeitslos, die Aussichten düster, meint Husak. Da ist der schnelle Euro durch die flinke Nummer auf dem Rücksitz eben eine große Verlockung.

„Natürlich habe ich es des Geldes wegen gemacht“, bestätigt auch Kacenka. Bis zu 200 Euro habe sie pro Woche verdient, das ist ein Vielfaches dessen, was ihre Eltern an Sozialhilfe erhalten. „Mit dem Geld habe ich mir dann mal ein Parfüm oder einen Lippenstift gekauft, bin mit Freunden zu McDonald’s oder ins Café“, sagt sie. Ganz normale Teenagerwünsche, denen die eigene Kindheit geopfert wird.

Das Wort Kinderprostitution nimmt Minderheitenbeauftragter Husak nicht gern in den Mund. „Vielleicht wurden ja mal vereinzelt Kleinkinder verkauft, verbreitet ist das aber nicht“, sagt er. Die Grenze liege, so Husak, bei zwölf Jahren: „Mit zwölf ist eine Roma kein Kind mehr.“ Wohl aber dem Gesetz nach, das die Kindheit bis zum fünfzehnten Lebensjahr andauern lässt.

Das musste auch die Mutter von Zuzka aus der Maticnistraße erfahren. Im Juli 2003 schickte ein Gericht sie für sechseinhalb Jahre hinter Gitter, weil sie ihre Tochter an Deutsche verkauft hat. Zuzka selbst ist aus dem Kinderheim, in das sie per Gerichtsbeschluss gesteckt wurde, längst abgehauen, lebt wieder in der Maticni und prostituiert sich weiter.

„Sie kennt eben nichts anderes“, flüstert Jozef Lacko, der in der Sozialstation der berüchtigten Straße arbeitet. Schon mit sechs Jahren hätte sie zum Analsex in Kinderpornos dienen müssen, erzählt er. Mit Schlägen sei sie von ihrer Mutter zum Sex gezwungen worden, besagt auch die Anklageschrift im Fall Zuzka, der im Februar erneut verhandelt werden soll.

Neu dürfte dieser Missbrauch von Kindern mitten in Europa eigentlich niemandem sein. Wenn von der deutschen Polizei wieder einmal ein Kinderpornoring zerschlagen werden konnte, war in den nachfolgenden Gerichtsverfahren meistens von Videoaufnahmen in Tschechien die Rede. Spätestens seit dem Jahr 2000 häufen sich parlamentarische Initiativen wegen der Kinderprostitution, die im Bundestag vor allem von der PDS und den Bündnisgrünen ausgehen.

Grenzübergreifende Streetworkerprojekte wie „Kobra“ in Zittau und „Karo“ in Plauen widmen sich der Betreuung von Opfern. Die sächsische und die tschechische Polizei bilden im August 2000 eine gemeinsame Arbeitsgruppe. Der Sächsische Landtag hört im Jahr 2001 Experten an. Im April 2002 bestätigt auch eine Anhörung der damaligen bündnisgrünen Bundestagsabgeordneten Christa Nickels in Plauen, dass der Kinderstrich entlang der Wohlstandsgrenze mehr als nur ein Gerücht ist.

Im Juli 2002 legt das tschechische Innenministerium einen ersten Bericht zur Kinderprostitution vor. Doch erst das Ansehen des UNO-Kinderhilfswerkes Unicef und seiner deutschen Schirmherrin, der Bundespräsidentengattin Christina Rau, bringt Ende Oktober 2003 Spitzenpolitiker in Bewegung.

„Das ist ein Verbrechen!“, erklärt Christina Rau vor der Presse. Auslöser ist ein von Unicef präsentiertes Buch der „Karo“-Projektleiterin Cathrin Schauer. Der größtenteils auf erschütternden Interviews während der Straßensozialarbeit beruhende Bericht löst ein kontroverses Echo aus. Vor allem das beschriebene Ausmaß der Kinderprostitution wird auf beiden Seiten der Grenze bestritten. Der tschechische Innenminister Stanislav Gross hält den Bericht für „unprofessionell“ und „stellenweise übertrieben“. Kein Wunder: Der tschechischen Regierung kommt das Thema kurz vor dem EU-Beitritt denkbar ungelegen, nachdem man sich im EU-Bericht von 2001 schon einmal einen Tadel eingehandelt hatte.

Um so mehr, als die wilde Prostitution am „längsten Straßenstrich Europas“ entlang der E 55 über das Osterzgebirge oder in Cheb, wo auf 350 Einwohner ein Bordell kommt, in den letzten Jahren eingedämmt werden konnte. Sie findet inzwischen „kaserniert“ hinter Schaufenstern oder in Etablissements mit vielsagenden Namen wie „Club Eva“, „Kiss“ oder „Libido“ statt. Hinzu kommt, dass die dort tätigen Frauen nur noch selten Tschechinnen sind, sondern „Importe“ aus der russischen Föderation oder anderen osteuropäischen Ländern. Kinder, die zum sexuellen Missbrauch angeboten werden, kommen wiederum zumeist aus Roma-Kreisen.

Für kleinere Verstimmungen zwischen den Nachbarländern sorgen schlimmstenfalls Verzögerungen beim Bau der Prag-Autobahn A 17 durch eifrige tschechische Umweltschützer, üble Gerüche aus dem nordböhmischen Kohlenkessel oder die Absicht, die Oberelbe mit weiteren Staustufen zu versehen. Deshalb begegnet auch das sächsische Innenministerium dem Schauer-Bericht „mit einer gehörigen Portion Skepsis“.

Und deshalb wurde Präventionsexperte Axel Teichmann im Innenministerium auch zurückgepfiffen, als er den tschechischen Behörden vorwarf, sie „blockten ab und spielten herunter, statt etwas zu tun“. Teichmann ist an der sächsisch-tschechischen Arbeitsgruppe nicht mehr beteiligt, das Ministerium entschuldigte sich für seine Aussagen schriftlich in Prag.

Schließlich darf auch nicht außer Acht gelassen werden, dass das grenzüberschreitende Sozialprojekt „Karo“ von Cathrin Schauer unter einem gewissen Profilierungsdruck stand. Immerhin ging es um mehr als eine halbe Million Euro Fördermittel, wenn im Juni dieses Jahres der aktuelle Bewilligungszeitraum endet. Seit Januar 2003 wurde das Projekt im Auftrag des Sozialministeriums von der Dresdner Evangelischen Hochschule für Soziale Arbeit evaluiert. Das in der Vorwoche bekannt gegebene Ergebnis: Die Förderung wird zum 12. Juni eingestellt.

Sachsen will bestenfalls noch den ursprünglichen Kernbereich des Projektes fördern, nämlich die Prävention gegen Aids und Geschlechtskrankheiten und die Straßenarbeit mit Sextouristen.

Beim Studium des Berichtes wird man den Eindruck nicht los, „Karo“ habe sich in den Augen der Geldgeber zu weit vorgewagt. Zwischen viel formalem Lob versteckt findet sich auch die Kritik, „Karo“ habe „eine überproportional gewichtete Öffentlichkeitsarbeit in Bereichen durchgeführt, die menschen- und strafrechtlich relevante Phänomene ansprechen“. Beanstandet wird ferner ein „zwar ambitioniertes, aber sehr weit ausgreifendes und in wesentlichen Teilen unklares und unentschiedenes Konzept“ und die mangelnde Effizienz bei der Strafverfolgung.

„Es hat in neun Jahren nicht eine einzige wirksame Anzeige gegeben“, sagt Sprecher Karltheodor Huttner vom sächsischen Sozialministerium. Unicef-Sprecherin Helga Kuhn weist diese Vorwürfe empört zurück: „Wir können nur Hinweise geben. Wir sind Sozialarbeiter und keine Ermittler.“

Was ist nun wahr, was aufgebauscht an der Kinderprostitution nahe der deutsch-tschechischen Grenze? Selbstredend kann es wegen der Strafbarkeit keinen offenen Kinderstrich geben. Aber nicht nur Reporter haben incognito Situationen provoziert, in denen sie Kinder angeboten bekamen. Auch Hans-Jürgen Mertha, in den Neunzigerjahren im sächsischen Landeskriminalamt für Prävention zuständig, hat es selbst erlebt.

Für ihn und für die PDS-Landesvorsitzende Cornelia Ernst ist es deshalb unerheblich, ob der Aufsehen erregende „Karo“-Bericht methodisch und wissenschaftlich wasserdicht ist und ob es sich um ein Massenphänomen handelt: „Jeder Einzelfall ist einer zu viel!“

Nahezu wörtlich wiederholt das auch der tschechische Innenminister Stanislav Gross. Cornelia Ernst, die sich seit Jahren leidenschaftlich um das Problem kümmert, ist allerdings auch auf spürbare Distanz zu „Karo“ gegangen. „Die Aufgabe muss vor allem in Tschechien selbst gelöst werden.“

Das sagt auch der Evaluationsbericht des sächsischen Sozialministeriums – und verlangt eine Verlagerung des Projektes in die nordböhmische Region. Dazu hat „Karo“ mit der Unterstützung des tschechischen Pendants „Marita P.“ in Cheb schon beigetragen. Mirka Hoseinova von „Marita P.“ relativiert die Skandalberichte: „Deutsche Männer werden auch oft verarscht oder mit Kindern angelockt, um sie auszurauben.“ Logisch, dass die abgezockten Freier die Polizei meiden. Die Bemühungen von Nichtregierungsorganisationen sind insofern schon weiter als die Politik, als ein Kinderschutzhaus in der Nähe von Cheb geplant wird.

Sigrid Richter-Unger vom Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerk mit Sitz in Berlin arbeitet in diese Richtung und ist bereits im fränkischen Zipfel um Selb aktiv. Ihr schwebt ein Kinderschutzzentrum vor, an das man sich anonym wenden kann und das auch Daueraufenthaltsplätze bieten sollte. Anders als „Karo“, das ein solches Haus gern selbst betreiben würde, meint Sigrid Richter-Unger aber: „Das sollen tschechische Leute machen, die wir zunächst nur anleiten.“ Mit der Stadtspitze von Cheb hat es bereits Kontakte gegeben.

Zugleich dämpft sie jede deutsche Arroganz gegenüber den tschechischen Nachbarn. Nicht nur, dass die Kinderschänder zu mehr als 90 Prozent aus Deutschland kommen: „Auch in Berlin gibt es einschlägige Lokale, die nicht einmal die Polizei kennt.“

Weil wohl nur ein Anstieg des Wohlstands und der Preise vor Ort den florierenden Grenzstrich eindämmen könnte, gibt es vor allem eine Hoffnung: den Beitritt Tschechiens zur EU.