Vergebt mir, anders zu sein

Singen, um die Dämonen zu besiegen: Für Wesley Willis, HipHopper aus Chicago, ist Musik ein Hilfsmittel gegen Schizophrenie. Porträts von Künstlern sind ein Schwerpunkt des 3. Gaga-Medienfests zum Thema Behinderung in fünf Berliner Kinos

von DETLEF KUHLBRODT

Wir befinden uns im „Europäischen Jahr der Menschen mit Behinderungen 2003“. Heute Abend wird das dritte „Gaga-Medienfest zum Thema Behinderung“ im Kino International eröffnet. Es werden 46 Filme gezeigt, in denen die unterschiedlichsten Behinderungen eine Rolle spielen, es gibt verschiedene Vorträge – über „Disney’s behinderte Helden“, über die „Darstellung von Behinderung in TV-Soaps“ –, es gibt Workshops zu „no budget“, „Filmarbeit mit geistig behinderten Jugendlichen“, „Hörfilme für Blinde“ und zur „Lust an Körperlichkeit und Sexualität im Film“ mit dem Dokumentarfilm-Kurator und Pornoregisseur Jürgen Brüning und auch ein „Club Event“ mit dem Londoner „Freak“ Matt Fraser.

Irgendwie ist man sich nicht sicher, ob man den Begriff „Behinderung“ nicht in Anführungszeichen setzen sollte, weil er diskriminierend und reduktionistisch ist. Die meisten Künstler würden darunter fallen. Er will Dinge unter einen Hut bringen, die wenig miteinander zu tun haben. „Behinderung“ ist ein Mangelbegriff, der die Vorstellung einer reicheren seelischen oder körperlichen „Normalität“ impliziert und macht eigentlich nur für die Krankenkasse Sinn. Er ist nur schwer objektivierbar und lädt möglicherweise zur selbstreduktionistischen Identifikation ein. Diese Fragen werden natürlich auch in einigen Filmen thematisiert.

Wie auch immer: Die Helden der Filme haben Depressionen, Zwangsvorstellungen, Lern- und geistige Behinderungen, sie sind schizophren, kleinwüchsig, autistisch, essgestört, süchtig, zwangsneurotisch, contergangeschädigt, blind, taubstumm, in ihren Köpfen wohnen andere Stimmen; Multiple Sklerose, Anorexie, Kleinwüchsigkeit, Kinderlähmung und das Down-Syndrom spielen eine Rolle. Angesichts dieser Vielfalt hören sich die Großer-oder-kleiner-Busen-, Helle-oder-dunkle-Haare-Unterschiede der so genannten Normalität doch etwas armselig an.

Man könnte die Filme nach den Behinderungen oder Genres ordnen. Es gibt Dokumentarfilme, Künstlerporträts, Spielfilme, Experimentalfilme. Teilweise scheint die „Behinderung“ auf einer Seite zur Intensivierung auf einer anderen zu führen: Wer nicht sieht, kann besser hören, Menschen mit Down-Syndrom scheinen ausgeglichener und freundlicher zu sein, Taubstumme haben vielfältigere Gesten und Verständigungsvorteile in der Disco; schizophrene Künstler machen intensivere Kunst.

Wie etwa Daniel Johnston oder sein schwarzer, geistesverwandter, eher hiphopmäßiger Kollege Wesley Willis aus Chicago, der in der wunderbaren Dokumentation „The Daddy of Rock ’n’ Roll“ von Daniel Bitton porträtiert wird. Für den chronisch schizophrenen, schwergewichtigen Künstler, der 1992 begann, Platten aufzunehmen, ist das Singen ein Mittel, seine Dämonen zu besiegen. Mittlerweile hat er 40 Alben veröffentlicht, ist ein großer Undergroundstar. Wunderbar ist auch Matthew Buzzells Porträt „If you only knew“ des heute 78-jährigen Jazzsängers Jimmy Scott, der wegen einer Hormonkrankheit mit 12 aufhörte zu wachsen und nie in die Pubertät kam. Mit Lionel Hampton oder Charlie Parker hatte er erste Hits ohne Nennung seines Namens. Wie viele seiner Kollegen wurde er von fiesen Musikindustriellen betrogen. Seine eigentliche Karriere begann erst mit 67. Die Konzertausschnitte sind unglaublich schön und berührend.

Es gibt auch diverse Spielfilme – etwa den französischen Streifen „Les Diables“ von Christophe Ruggia, in dem von Joseph und seiner autistischen Schwester Chloé erzählt wird. Sie wurden als Säuglinge ausgesetzt und reißen ständig aus dem Kinderheim aus. Ein Roadmovie mit Selbstverletzungen, Kinderaufständen, Inzest und solchen Dingen. Der schnelle, angenehm englische Film „Rush 2“ erzählt von gehörlosen Freunden im besten Filmalter zwischen Identitätssuche, Liebe, Arbeit, Clubs, Drogen, Musik, Delinquenz. Experimentell mit vielen Doppelbelichtungen geht es in „Intoxicated by my Illness“ des behinderten britischen Regisseurs Stephen Dwoskin um Sexualität. Über Krankenhausbildern liegen sexuelle Fantasien, die notgedrungen oft etwas SM-mäßig sind.

Der Experimentalfilm „Forgive me“ des holländischen Filmemachers Cyrus Frisch ist gleichzeitig ein Porträt von im Alkohol- oder Drogenrausch delirierender Helden, die vom Stuhl fallen und traurigste Geschichten erzählen, und eine Reflektion über die Frage, wieweit man als Regisseur das Leid anderer ausbeuten kann. Irgendwie bewahren die Helden gerade dann, wenn sie besonders fertig sind, nicht mehr weitersprechen können und nur noch Speichel aus ihren Mundwinkeln tropft, noch immer ihre Würde.

Gaga 3, 7.–14. 5. im Eiszeit, Arsenal, Kleisthaus, Kino International; Clubnacht am 10. 5. ab 20.30 Uhr im „Hands up“, Friedrichstr. 12