Der unbestimmte Platz

Für die Verfilmung von „In 80 Tagen um die Welt“ von Jules Verne wurde der Gendarmenmarkt zu einer Welt an einem einzigen Ort. Alte und neue Kulissen lassen sich nur am Klang unterscheiden

von WALTRAUD SCHWAB

Das globale Dorf – nur ein Phantasma? Was für eine Frage! Seit ein paar Wochen wird in Berlin der Versuch unternommen, zu beweisen, dass die Welt an einem Ort keine Fiktion mehr ist, sondern Wirklichkeit. Die Metamorphose vollzieht sich auf dem Gendarmenmarkt. Der schönste Platz Berlins mit seiner französischen Vergangenheit liegt nun in London. Der Deutsche Dom hat sich in die „Bank of England“ verwandelt. Das Konzerthaus ist zur „Academy of Science“, zur Akademie der Wissenschaften, ernannt. Aus dem Französischen Dom wurde das Theater „The Gaiety“, die Fröhlichkeit. Dazwischen flanieren die Touristen. Staunend. Denn alles ist gleichzeitig immer auch das, was es vorher war. Auf dem Gendarmenmarkt wird Distanz überwunden, ohne dass gereist werden muss.

Jules Vernes Vision der grenzenlosen Welterfahrung ist mitten in Berlin in Erfüllung gegangen. In einer Kulisse, die echt wirkt. Niemand kann mehr genau sagen, was schon immer da war und was dazugestellt wurde: Die vielarmigen Straßenlaternen oder die Parkbänke mit den schmiedeeisernen Seitenlehnen? Die Absperrpfosten mit den gusseisernen Ketten oder die mannshohen Parkgitter, an die die Berliner ihre Fahrräder lehnen? Die aus dem Boden ragenden Kellereingänge oder der alte Brunnen mit dem steinernen Becken? Die Passanten jedenfalls spüren, dass sich hier eine Verwandlung vollzieht. Deshalb verlangsamen sie ihre Schritte und kommen ins Grübeln.

„Wissen Sie, ob diese Pfosten englisch sind oder deutsch?“, will eine Touristin von ihrer Reiseleiterin wissen. Diese muss passen. „Excuse me“, wendet sie sich an den Kulissenmaler, der die Masken auf der Fassade des „Gaiety“-Theaters ausmalt, „sind die echt oder nicht?“ Die Reiseleiterin deutet auf die massiv wirkenden Steine. „Klopfen Sie dran“, antwortet der Kulissenmaler in bestem Englisch. „Wenn es Gips ist, dann ist es Fake. Wenn es Stein ist, ist es echt. It’s the sound that makes all the difference.“ Der Ton macht die Musik. „Es sieht fantastisch aus“, sagt die Touristin und verwickelt den Kulissenmaler, der gerade neue Farbe geholt hat, in ein Gespräch, bevor er mit seiner Hebebühne wieder nach oben fährt, um weiterzumalen. So viel weiß sie am Ende: Er wurde extra nach Berlin eingeflogen für den Job. Sonst lebt er in England und arbeitet in Bangkok. Solche Mobilität überrascht nicht an einem Ort, wo Wunder geschehen.

Ein schwarzhäutiger Saxofonspieler hüllt das Szenario in sonore Melancholie. Beim Weiterschlendern wird sein schepperndes Echo von einer Musikantentruppe kontrastiert. Akkordeon, Gitarre, Geige. Den Gästen des italienischen Lokals, das seine Stühle am Rande des Platzes unweit des Deutschen Doms, nun Bank of England, aufgestellt hat, wird „Junge, komm bald wieder“ mit russischem Schmelz vorgespielt. Flüchtig und liebevoll.

Gegenüber dem Konzerthaus, nun Akademie der Wissenschaften, steht ein viktorianisches Gebäude. Der Eingang mit Säulen bestückt. Links davon residiert ein riesiger Löwe auf seinem Sockel. „Soll das Trafalgar Square sein?“ Der Supervisor der Kulissenbaustelle winkt ab. Es ist kein bestimmter englischer Platz, der zum Gendarmenmarkt addiert wurde, sagt er in smalltalkender Manier. Auch er einer, der in Berlin plötzlich zu Hause ist, obwohl er vorher noch nicht da war.

Hinter dem viktorianischen Gebäude führt der Supervisor in den Mikrokosmos der Kulissenbauer ein mit ihren Schweißgeräten und Dixi-Klos, Bauwagen und Bierkästen, Farbmischmaschinen und einem rau-herzlichen Ton. Dass alles nur Illusion ist, wird von hier hinten sichtbar. Die neuen Gebäude sind aus Holz, abgestützt von pittoresker Gerüstebaukunst. „Sind Sie im Zeitplan?“ „Wenn die Designer klar sagen würden, was sie wollen, dann schon“, antwortet der Supervisor. Zu verstehen allerdings ist nur „designer“ und „make up their mind“. Die Sprühpistole, mit der die Farbe auf die hölzernen Fassaden gespritzt wird, ist zu laut.

Vor der Treppe zur Akademie der Wissenschaften steht der Sockel einer Statue. „Soll das Nelson Column werden?“ Der Supervisor versteht nicht, dass nicht verstanden wird, dass auf dem Gendarmenmarkt nicht London, sondern die ganze Welt abgebildet ist. „Da hinein wird das Verne’sche Flugmobil fliegen“, erläutert er. Er sagt es mit Mitgefühl und deutet auf das fantastische Gefährt aus Papier, das wie ein großer Vogel daherkommt. Viel Zeit zum Reden hat er nicht. Einen Tag vor Drehbeginn ist Hektik ausgebrochen.

Überhaupt der Drehbeginn. Er zerstört die Illusion der letzten Wochen, als sich die Transformation vollzog. Nun stehen überall Kräne, wird Absperrband aufgezogen. Von jetzt an ist der Gendarmenmarkt Filmbaustelle. Statistinnen mit Kinderwagen, die hundertjähriges Flair versprühen, und Leiterwagen voller Kohlensäcke, das passt nicht zur Welt an einem einzigen Ort. Es ist eine ganz andere Geschichte.