Kantische Nächte

Das SCHLAGLOCH von KERSTIN DECKER

Bis heute hält sich das geistig handliche Vorurteil, Aufklärung sei fortschrittlich, Romantik reaktionär

Er ist da gelandet, wo alle Zyniker immer landen, rechts außen.

Der Berliner Theaterintendant Claus Peymann über den Berliner Theaterintendanten Frank Castorf.

Wir stammen alle von Kant ab, haben wir eben erfahren. Von Kant und vom Affen. Wenn man beides zusammennimmt, hat man ungefähr die Conditio humana. Nun ist Kants 200. Todestag schon zwei Wochen her. Verantwortliche Journalisten formulieren diese Tatsache so: Kant ist durch. Aber das stimmt nicht. Im Februar ist er gestorben, im April hat er Geburtstag. Gedenktagsdialektik. Also ist dies hier ein Zwischentext. Dass Kant mit uns verwandt ist, wissen wir schon. Allerdings sagt man bei Jubiläen fast nie etwas über die Grenzen der Verwandtschaft. Das ist die Chance des Zwischentextes.

Einen Denker erklärt man am besten aus seinen Nächten. Leider hat sich diese Methode an den Universitäten noch nicht durchsetzen können. Nehmen wir nur mal den „bestirnten Himmel über mir und das Sittengesetz in mir“, jene beiden Dinge, die das Kant’sche Gemüt mit höchster Bewunderung erfüllen. Kant weiß gar nicht, wie sehr dieser Satz von dem abhängt, dem er am meisten misstraut: vom sinnlichen Eindruck. Denn nur unter einem Königsberger Nachthimmel konnte er auf die Idee kommen. Und einen anderen Himmel kannte Kant ja nicht. In der Uckermark versteht man das. Die Uckermark hat auch solche unendlich klaren Königsberger Nächte, denn sie ist ungefähr genauso leer wie Ostpreußen. In Berlin hätte Kant keine Chance gehabt. Die drei Sterne über Berlin verblassen schon vor der Leuchtreklame des nächsten Straßencafés. Trotzdem ist nicht allein die Hauptstadt schuld. Schon die Generation nach Kant dachte in scheinbar kantischen Nächten etwas ganz anderes. Ist der Kant’sche Himmel nicht ein Tathimmel, ein Gesetzeshimmel?

Die Romantiker feierten die Nacht als Gegenwelt des tätigen Tages. Überhaupt ist die kantische Reaktion auf die Nacht die unwahrscheinlichste von allen. Steht in ihr wirklich der Aufruf, so zu handeln, dass die Maxime meines Willens jederzeit zur Grundlage einer allgemeinen Gesetzgebung werden kann? Oder sollten wir in der endlosen Höhe der Sternennacht nicht unsere kosmische Verlorenheit erkennen? Wir sind ganz allein im All, also können wir machen, was wir wollen. Machen wir ja schon. Ein Spezialfall dieser Einsicht ist die irische Variante des Optimismus: Wenn du betrunken in der Gosse liegst, kannst du immer noch zu den Sternen aufschauen! Eigentlich kannte Kant gar keine Nächte. Denn er ging immer schon vor neun Uhr abends schlafen und stand vor fünf Uhr wieder auf. Der Kant’sche Nachthimmel muss in Wirklichkeit ein tatendurstiger Morgenhimmel gewesen sein.

Das führt uns unmittelbar zu einer zweiten Eigentümlichkeit der kantischen Nächte. Sie waren ohne Unterleib. Der Philosoph benutzte sie wirklich zum Schlafen. Darum mag uns die Kant’sche Definition der Ehe auch etwas kühl vorkommen. Die Ehe ist ein Vertrag über „den wechselseitigen Gebrauch der Geschlechtsorgane“, hatte Kant definiert. Da muss doch noch etwas sein, überlegten kurz darauf die Romantiker. Woran man erkennt, dass auch wir, im nicht unbedingt vernünftigen Spezialfall unserer Heiratswilligkeit, strukturelle Romantiker sind. Denn dass sich der wechselseitige Gebrauch der Geschlechtsorgane einmal viel besser vertragsunabhängig regeln lassen würde, konnte Kant nicht voraussehen. Dabei war er gar kein Zyniker. Er wollte nur saubere Definitionen. Und er sah ganz deutlich, auch wenn er es nicht ausprobierte, was Frauen und Männer miteinander anfangen können. Dass sie noch mehr miteinander anfangen könnten, schien ihm eher unwahrscheinlich. Essen zum Beispiel. Zu den Kant’schen Tafelrunden hatten Frauen keinen Zutritt. Und als sehr spät doch eine eindrang ins Haus des Philosophen – Kants Schwester kam, um den alten, kranken Bruder zu pflegen –, versuchte er, sie bestmöglich vor Besuchern zu verstecken. „Sie hat nun mal keine Kultur“, sagte der schon demenzkranke Philosoph.

Die Nacht also war nicht Kants Stärke. Kommen wir zum Tag. Sind wir nun eher Romantiker oder Aufklärer? Unser Leben, die ganze Gesellschaft ist gesetzesförmig geregelt. Denn wo ein Gesetz anfängt, hört die Willkür auf. Das ist kantisch. Die Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit, hatte Kant bleibend schön gesagt. Trotzdem wissen wir heute etwas, was Kant nicht wusste. Wer ihre historische Illusion, also ihre Nachtseite, nicht mitdenkt, begreift die Aufklärung nicht: Man muss die Welt nur richtig verstehen, um sie zu verändern, glaubte sie. Wissen bessert. Wie Newton die Planetenbahnen berechnete, lässt sich auch die Gesellschaft berechnen. Die Herrschaft über die Natur ist der erste Schritt, die Herrschaft des Menschen über seine eigenen Angelegenheiten ist der zweite. Das ist unser Kant-fernster Punkt. Dass die Welt sehenden Auges gegen die Wand läuft und dass dieses Wissen nichts daran ändern kann, ahnt jeder. Das liegt an den Untervernünften. Jede gesellschaftliche Untervernunft (Politik, Wirtschaft) kann völlig rational begründen, was sie tut. Und am Ende kommt etwas ganz und gar Unvernünftiges heraus. Das ist romantisches Nachtwissen. Mit ihm hatte Kant nicht gerechnet. Bis heute hält sich das geistig handliche Vorurteil, Aufklärung sei fortschrittlich, Romantik aber reaktionär. Eine Probe davon gab soeben der Berliner Intendant Claus Peymann. Castorfs letzte Premiere handelte von Rauschgift („Kokain“), danach kam die Gastpremiere „Vater unser“. Sie handelte, wie der Name schon sagt, von der Religion. Mitten in der Religionspremiere stand Claus Peymann auf und ging. Typische Aufklärerreaktion. Geistig ist die Religion seit mindestens 150 Jahren mausetot, wissen alle Aufklärer. Kant hatte sie in einen schön geschnitzten Vernunftrahmen eingepasst und gedacht, manche Menschen könnten sie vielleicht noch nötig haben. Sein Diener Lampe zum Beispiel. Schon wegen des Trostes. Also schaffen wir sie nicht ganz ab, passen aber gut auf, dass sie keinen Schaden anrichtet. Damit kann jeder Aufklärer leben. Aber dass im Jahre 2004 das Beten zum Mittelpunkt eines Theaterstücks werden kann, also zum geistigen Ereignis, hat den Aufklärer Peymann tief verstört. Nachtblind wie alle Aufklärer, nennt er Castorf einen „Rechtsaußen“.

Wir sind ganz allein im All, also können wir machen, was wir wollen. Machen wir ja schon

Die DDR dachte in dem Punkt genau wie Peymann. Alle Romantiker sind Reaktionäre, Irrationale und Rechtsaußen, hat sie gesagt. Und von Schelling führt ein schnurgerader Weg zu Hitler.

Aber hat man eigentlich die Wahl, ob man Aufklärer wird oder Romantiker? In der DDR waren die Progressiven, also Menschen, die noch bis drei zählen konnten, Romantiker. Weil die Grundfrage lautete: Wie kann etwas, das so gut gemeint ist, so danebengehen? Das ist eine urromantische Frage. Warum ist, wo Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit draufsteht, am Ende die Guillotine drin?, wollten einst die Romantiker wissen. Kein Kantianer kann das erklären. Darum gibt es auch so wenig kantianische Dramatiker. Bloß Schiller und Peymann. Und wir haben nur eine Chance. Wir müssen romantische Kantianer oder kantianische Romantiker werden. Nachtsichtige Tagmenschen.

Fotohinweis: Kerstin Decker lebt als Journalistin in Berlin