debatte: integration und chancengleichheit
: Das Problem mit dem Kopftuch: Es stellt sich kaum

Chancengleichheit für Zuwanderer, auch gläubige Muslime, ist ein unerlässlicher Bestandteil von Integration

Das Karlsruher Kopftuch-Urteil vom September des vergangenen Jahres hat eine ungewöhnlich breite gesellschaftliche und politische, von dem Medien begierig aufgegriffene Debatte provoziert. Kaum eine Frage von Integration und Zusammenleben ist in den letzten Jahren derart breit diskutiert worden wie das Für und Wider des Tragens des Kopftuches durch muslimische Lehrerinnen im Unterricht. Tatsächlich verdient die Auseinandersetzung diese Aufmerksamkeit aber nicht.

Die mit Abstand größte muslimische Zuwanderergruppe in Deutschland wie in Nordrhein-Westfalen sind die Türkinnen und Türken. Nur für eine Minderheit unter ihnen spielt das Kopftuch eine Rolle. Nur 27 Prozent der volljährigen türkeistämmigen Menschen in Deutschland vertreten nach einer repräsentativen, bundesweiten Befragung des Zentrums für Türkeistudien aus dem Jahr 2001 die Ansicht, muslimische Frauen sollten in der Öffentlichkeit ein Kopftuch tragen. Dabei liegt die Zustimmung unter den Frauen zum Kopftuch mit 26 Prozent sogar noch etwas niedriger. Noch geringer werden die Zustimmungswerte zum Kopftuch mit höherer Bildung und unter den jungen Altersgruppen, wo die Zustimmung zum Kopftuch deutlich unter 20 Prozent sinkt. Auch wenn junge türkeistämmige Frauen in den nächsten Jahren in größerer Zahl ins Lehramt strömen sollten, würde es sich beim Kopftuch eher um ein Randproblem handeln. Der tatsächliche integrationspolitische Skandal, so ein solcher durch die Öffentlichkeit auszumachen gesucht wird, liegt aber eben darin, dass auf absehbare Zeit der Run von Zuwanderern auf die akademischen Berufe und den öffentlichen Dienst eben nicht einsetzen wird. Die Bildungserfolge türkischer Kinder und Jugendlicher stagnieren seit Jahren. Unter 10 Prozent der ausländischen Jugendlichen verlassen die deutsche Schule mit dem Abitur, gegenüber 26 Prozent der deutschen Schülerinnen und Schüler. Das Problem mit dem Kopftuch ist also, dass sich das Problem eben kaum stellt. Eine Auseinandersetzung mit den Ursachen für diesen Umstand wäre aus integrationspolitischer Sicht weitaus fruchtbarer als die noch immer laufende Kopftuch-Debatte.

Bei den jetzt anstehenden Gesetzgebungsverfahren in den einzelnen Ländern muss eine sorgfältige Abwägung getroffen werden: Chancengleichheit für Zuwanderer, auch gläubige Muslime, ist ein unerlässlicher Bestandteil von Integration. Diese Chancengleichheit kann langfristig in Konkurrenz zu berechtigten Ansprüchen der Aufnahmegesellschaft treten, die Normen im Integrationsprozess zu setzen und Wertmaßstäbe zu definieren. Deshalb ist eine differenzierte Debatte zwar nötig, sie berührt aber keine integrationspolitische Kernfrage.

Theoretisch steht die deutsche Gesellschaft in der Kopftuchfrage vor dem Dilemma, ihre eigene Identität gegen das Interesse der Integration von Menschen mit anderem religiös-kulturellem Hintergrund abwägen zu müssen. Aber ist die Identität unserer Gesellschaft durch das Kopftuch tatsächlich bedroht oder wäre das Kopftuch auch bei Lehrerinnen nicht ein Ausdruck der Pluralität, die ja zum Kernbestand unseres Selbstverständnisses zählt?

Keinesfalls kann das Kopftuch pauschal als Zeichen islamistischer oder fundamentalistischer Gesinnung betrachtet werden. Auch ist das Kopftuchtragen und die Emanzipation der Frau nicht ohne Weiteres ausgeschlossen. Allerdings ist, bei allem Bemühen um eine differenzierte Sichtweise, der Blick auf das Bezugssystem und Menschenbild, und hier insbesondere auf die impliziten Annahmen über die Beschaffenheit der Geschlechterbeziehungen, unumgänglich. Der Schutz der Würde der Frau durch die Bedeckung des Hauptes impliziert die latente Gefahr der Viktimisierung der Frau durch die sie umgebende Männerwelt. Dies ist eine hochproblematische Vorstellung der Beziehungen zwischen Frau und Mann, zumal in westlichen Gesellschaften. In der Schule unter Kindern und Heranwachsenden hat ein solches Menschenbild nichts verloren. Es ist zu hoffen, dass es sich bald wirklich lohnt, diese Auseinandersetzung zu führen, und dass diese Debatte nicht nur entlang der Front Deutsche gegen Muslima, sondern unter Einbeziehung der Mehrzahl der muslimischen Frauen geführt wird, die das Kopftuch ablehnen. Dazu müssen aber zuerst mehr Migrantinnen in den Schuldienst.

FARUK SEN