Frau mit Rindern

Ewige Sucht nach dem Urbild: Das Hamburger Ernst Barlach Haus präsentiert selten gezeigte Menschenbildnisse Ewald Matarés

Ironie oder Ernst? Kleine weibliche Torsi als Abglanz prähistorischer Idol-FigurenMutter-Kind-Szene bleibt im Gestus streng formalisiert und entzieht sich dem Betrachter

von Petra Schellen

Manche Museen funktionieren antizyklisch. Liegen inmitten wunderbarer Parks, möglichst mit Elbblick, und können sich des Besucherstroms gerade bei schönem Wetter kaum erwehren – womit ein neuer Beweis für die allseits beliebte These erbracht scheint, dass Kunst an sich weder Sym- noch Antipathie weckt, sondern entscheidend auch das Ambiente ist. Da ist zum Beispiel das Hamburger Ernst Barlach Haus, erbaut 1963 von Werner Kallmorgen und als bescheiden-weißer Flachbau in den Jenisch Park integriert. Architektonisch ist das Gebäude sensibel auf die dort beheimatete Barlach-Sammlung abgestimmt: Blickachsen könnten nicht stringenter arrangiert, das Licht kaum glaubhafter geführt, die Figuren kaum angenehmer von allen Seiten umrundbar sein.

Vier Ausstellungen präsentiert das zu 97 Prozent privat getragene Haus, das sich zu einem Drittel über Einnahmen und Katalogverkauf finanziert und das – anders als die übrigen Hamburger Museen – keine Besucherrückgänge verzeichnet. Im Gegenteil: Nach konstanten Steigerungen in den Vorjahren kamen auch 2003 vier Prozent mehr Besucher als 2002. Von Barlach-Zeitgenossen über den Architekten Kallmorgen bis zu Ewald Mataré reichen die kleinen Ausstellungen, die durch regelmäßige, mit der Hochschule für Musik gemeinsam veranstaltete Konzerte der Reihe „Klang und Form“ ergänzt werden.

Ein subtil musikalischer Rhythmus ist es auch, der die derzeit präsentierten Gemälde, Grafiken und Skulpturen Ewald Matarés (1887–1965) prägt, dessen Menschendarstellungen sich die aktuelle Schau widmet. Eine selten beleuchtete Facette des bedeutenden Vertreters der Klassischen Moderne, der die rheinische Kunst der 50er und 60er Jahre stark prägte: Nicht nur am Südportal des Kölner Doms prangen mehrere seiner Mosaike; auch der vorm Hauptportal gelegene „Taubenbrunnen“ stammt vom 1937 durch die Nazis verfemten Mataré.

Doch die Ouvertüre zu den oft als Auftragswerke geschaffenen bekannten Tierskulpturen bilden Matarés zwischen 1920 und 1930 entstandene Menschenbildnisse, deren frühteste eine deutlich expressionistische Sprache sprechen. Auf Wangerooge begann sich Mataré nach einem abgebrochenen Kunststudium, das ihm zu akademisch war, in den zwanziger Jahren dem Holzschnitt zu widmen. Eine entscheidende Etappe auf dem Weg zur Dreidimensionalität; wichtige Ära auch, in der Mataré die Liebe zum Material entdeckte. Eine respektvolle Faszination, die immer die Balance zwischen Aktzeptanz und Gestaltung wahrt, wie sie die Holzbüste seiner Frau Hanna offenbart: Das Astloch, das gut das Auge der Skulptur hätte sein können, ist ein bisschen zu hoch geraten; so bleibt die Büste eben augenlos. Asymmetrie von Kunst und Material wird – neben dem dauerhaften Versuch der Typisierung – bewusstes Elixier. Ebenso die Zer- und Gebrechlichkeit des Materials, die sich beim Torso Schreitender Mann zeigt, dem Jahre nach der Fertigstellung ein Bein abbrach, das Mataré bewusst nicht wieder ergänzte. Im Gegenteil: Er glättete nicht einmal die Bruchstellen. Wollte man tiefer schürfen, unterstellte man hier eine generelle Akzeptanz nicht nur der Veränderlichkeit von Materialien, sondern auch von Unzulänglichkeiten oder Behinderungen jedes Geschöpfs.

Als Fundstücke verwandte Mataré seine Materialien, um ihnen eventuell Archetypisches zu entlocken – allein: Das Urbild des Menschen lässt sich nicht finden auf jener bearbeiteten Tonscherbe, die er 1923 auf Sylt schuf – oder etwa doch? Archaisches schwingt oft mit in Matarés Skulpturen. Auf den ersten Blick absurde Konstellationen erfindet er außerdem, die weit in die Menschheitsgeschichte zurückreichen: Kleine weibliche Torsi, prähistorischen „Idolen“ nachempfunden, schuf Mataré zum Beispiel immer wieder: Figürchen, die man auch auf ein Schachbrett legen könnte und in denen vielleicht – hoffentlich? – auch leise Ironie anklingt angesichts sich nur träge wandelnder Rollenklischees. Oder meinte er es ernst; suchte Mataré in jenen oft kopflosen Frauenfiguren tatsächlich eine göttinnengleiche „Ur-Mutter Erde“? War es sein Bedürfnis, Wurzeln von Menschheitsgeschichte nochmals neu sichtbar zu machen?

Ein weiteres Ingrediens – Rinder – hat Mataré auf einem Bronzerelief von 1930 einer Frau zugesellt; daneben prangt die höchst merkwürdige Intarsienarbeit Frau mit drei Rindern, die eine irritierende Kluft zwischen der verfeinerten Technik und der suggerierten Archaik des Motivs offenbart: Im Garten Eden scheinen Frau und Tiere zu sitzen, im Paradies vielleicht gar – oder schon jenseits desselben, denn domestizierte Kühe gab es dort vermutlich nicht.

Abstraktion und Konkretum liegen bei Mataré dicht nebeneinander. Eigenwillige Experimente wie die eine Holzschnitt-Silhouette nachbildende Skulptur Pietà – Mutter und totes Kind bezeugen, dass Mataré bezüglich der Hierarchie von Form und Inhalt dauerhaft unschlüssig blieb: Äußerst ambivalent wirkt die hoch aufragende, an die Wand montierte Mutter-Kind-Gruppe aus Holz, deren Gestus an Kreuzigungsszenen erinnert. Doch Intimität stellt sich trotz des privaten Motivs nicht ein: Einen Hauch zu elegant halten Mutters Arme das Kind umfangen. Ein Quäntchen zu distanziert hält sie es vor sich; blicklos sind ihre Augen, obwohl die Konstellation große Nähe suggeriert. Doch die Pose bleibt Form; ausdruckslos ist das Muttergesicht, streng formalisiert und durchdacht jede Geste. Fast scheint es, als habe Mataré hier das Typische nicht nur des Menschen, sondern einer Beziehung präsentieren wollen, eine Geste zugleich zeigend und verbergend. Und warum eigentlich die hoch aufragende, sich vom Betrachter wegstreckende, nie aus der Nähe erfassbare Rückansicht des Geschehens?

Strukturelle Fragen, die sich Mataré wohl dauerhaft gestellt hat, arbeitete er doch immer wieder an dieser Skulptur, gestaltete die Fußpartie immer wieder um, ohne zu einem abschließenden Resultat zu gelangen. Doch diese Ambivalenz schadet der Skulptur nicht. Sie offenbart vielmehr einen fundamentalen Zweifel an der ewig währenden „Gültigkeit“ eines Werks, das Mataré – immer in Respekt vor den Eigenheiten des Materials – stets als Etappe und als Wandelbares begriff.

„Ewald Mataré – Das Bild des Menschen“. Ernst Barlach Haus, Hamburg; Geöffnet Di–So 11–18 Uhr; bis 18. April 2004