Die Ruhe im Karton

In der Warteschleife zwischen Dies- und Jenseits: Das Jugendtheater carrousel zeigt mit „Schwestern“ von Theo Fransz ein Kammerspiel über den Umgang mit dem Tod

Der Tod steht ihr gut. Die Augen strahlen himmelblau, die Pausbäckchen rosarot. Nicht die Spur von einem Kratzer lädiert Gesicht oder Körper, und auch sonst legt Zus eine verdammt flotte Sohle aufs Parkett für jemanden, der vor vierzig Tagen vom Zug überrollt wurde.

Ihre große Schwester Mathilde dagegen schaut äußerst griesgrämig drein, die Stirn in tiefe Falten geschlagen und die Augen mit dunklen Ringen unterlegt, weil Mathilde seit 40 Tagen nicht geschlafen hat. Seit jenem tödlichen Unfall, den Mathilde mit ansehen musste, wird sie von Zus in einer von Schmerz und Verzweiflung überschatteten Traumwelt wach gehalten.

Theo Fransz’ Kammerspiel „Schwestern“, das am vergangenen Samstag im carrousel Theater Premiere feierte, gehört in seiner deutschen Erstaufführung in die Kategorie Kinder- und Jugendtheater. Bühnenbild und Kostüme lassen daran keinen Zweifel, Text und Dramaturgie unterlaufen jegliche Konventionen des guten Tons und gesitteten Verhaltens. Dennoch ist „Schwestern“ im Grunde ein alterloses Stück, das auf ernsthaft komische Weise das Grauen der Einsamkeit und die Machtlosigkeit gegenüber dem Schicksal beschwört.

Aus diesem Dunkel scheint es für die beiden Mädchen keinen Ausweg zu geben. Wenn nicht für Mathilde, dann auch nicht für Zus, die wegen der Schuldgefühle ihrer Schwester in einer frostigen Warteschleife zwischen Diesseits und Jenseits festhängt. So verlegen sich die Mädchen in ihrer Verzweiflung auf ein streitlustiges Spiel: Sie quasseln, tanzen, fluchen, singen, zanken ohne Unterlass. Sie agieren in einer märchenhaften Welt, die die Wirklichkeit nicht antastet und als Fluchtpunkt dient, bis am Ende Realität und Fantasie an diesem Ort zusammenlaufen. Hier ersetzen Zeichen und Symbole tatsächliches Geschehen und Rollenwechsel wirkliche Entscheidungen.

Der niederländische Autor und Regisseur Theo Fransz inszeniert zwei Personen in der Stille der Nacht, ohne seinen straffen Plot durch ausschmückende Charaktere aufzulockern. Und glücklicherweise ohne die großen Fragen beantworten zu wollen, die hier unweigerlich im Raum stehen: die Frage nach der Schuld ebenso wenig wie etwa nach der besten Medizin gegen die quälenden Gefühle von Einsamkeit und Trauer, bevor diese chronisch werden. Oder man verrückt wird, wie es die Eltern bei Mathilde befürchten müssen. Ihnen mangelt es an der nötigen Vorstellungskraft, um Zus in der Erinnerung so lebendig wie mit Kinderaugen zu sehen.

Den beiden Darstellerinnen, Kim Pfeiffer und Sanam Afrashteh, scheint diese Fähigkeit geblieben. Man nimmt ihnen die zänkischen Kampfhühnchen ab, die sich da in den Betten raufen, selbst wo die kindlichen Spielereien mitunter in puren Slapstick umschlagen.

Das mag auf die – verhältnismäßig – ältere Kritikergeneration zunächst albern wirken, legt jedoch umso mehr Bedeutung auf die sparsam gehaltenen Sekunden des Schweigens, der Sprachlosigkeit. Dann ist für einen nachdenklichen, beklemmenden Moment Ruhe im Karton, während sich die subtile Essenz des kindlichen Redeschwalls ihren Weg zum Hinterkopf des jungen Theaterbesuchers bahnt. Viel Zeit bleibt nicht, vielleicht manchmal zu wenig. PAMELA JAHN

„Schwestern“: carrousel Theater an der Parkaue. Weitere Vorstellungen am 4., 5., 29. und 30. März, jeweils 10.30 Uhr