mein leben als hostiendieb von MICHAEL RUDOLF
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Ministrant wollte ich nicht werden. Niemals wollte ich zu den Gemeindestrebern gehören, die sich vor sechshundert Leuten im Kirchenschiff zum Obst machten. Nicht mal unkeusche Gedanken konnten sie haben. Das nämlich war es, was ich während des Hochamtes wollte. Denn Sylvia D. saß zwei Reihen vor mir, und ihr Äußeres regte mich allsonntäglich zu erstaunlichen Überlegungen an.

Andererseits genossen die Ministranten ein großes Privilegium: Sie hatten einen Eins-a-Zugang zu Hostien und Messwein. Schon oft hatte ich den Pfarrer mit der Frage genervt, ob denn der Leib Christi nicht bald aufgegessen sei. Und warum der Messwein bei der Wandlung nicht rot werde. Seine stets ausweichenden Antworten schürten in mir einen fürchterlichen Verdacht. Und mein Plan stand fest.

Mit Einführung der Handkommunion konnte ich selbst bestimmen, wie ich die Hostie am Gaumen platzierte. Das hatte ich zuvor mit zugeschnittenen Backoblaten ausgiebig geübt. Die letzte Viertelstunde des Gottesdienstes war dann mehr als anstrengend. Schon weil die Zunge ganz andere Pläne im Gaumendom verfolgte. Sogleich nach dem Hochamt schlich ich in die Pfarramtstoiletten, wo ich mit dem ungläubigen Thomas F. verabredet war, der eine Gegenprobe gezogen hatte. Das Ergebnis war niederschmetternd. Der Hostienkorpus war höchst unsauber ausgestanzt, sodass Jesu Halbrelief auf der A-Seite und das triumphierende Lamm Gottes auf der B-Seite allenfalls fragmentiert zu erkennen waren.

Umgehend stellte ich unseren Pfarrer zur Rede. Wortreich wies ich ihn darauf hin, es müsse sich bei den Hostien um Fälschungen handeln. Vielleicht stecke sogar der Teufel dahinter. Der Geistliche folgte meinen Ausführungen relativ zurückhaltend. Er behielt die beiden Beweisstücke ein und schickte mich heim. Einem abendlichen „Gespräch“ mit meinen Erziehungsberechtigten entnahm ich dann, dass der Seelenhirte zu einer völlig anderen Interpretation neigte. Zunächst soll er mit dem Bischof übereingekommen sein, dass eventuell über eine neue Weihung der Kirche nachgedacht werden müsse. Ferner soll er sich besorgt gezeigt haben, ob ich so jemals des Wunders der Transsubstantiation teilhaftig werden könne. Auf meinen schrecklichen Verdacht gingen weder er noch meine Erziehungsberechtigten mit auch nur einem Wort ein.

Teil zwei meines Plans konnte ich erst ausführen, als „Gras über die Sache gewachsen“ war. In den Ferien hatte ich mit dem Gemeindemaurer eine neue Garage für den Pfarrer erbaut und nebenbei der Anlieferung neuen Messweins nicht nur beigewohnt, sondern diese sogar tatkräftig unterstützt. Kurzum: Ich stahl eine der bauchigen Literflaschen und stellte sie daheim nicht nur kühl, sondern auch fest, dass es sich beim Inhalt um den goldgelbklebrigsüßen Likörwein „Insel Samos“ (16 % Alc.) aus der Weingroßkellerei Müller-Flape handelte. Eine Woche später enttrat ich der Kirche und betrachte es seither als meine historische Mission, ihre großen und kleinen Verbrechen öffentlich zu machen.

Auch Sylvia D. sollte mich enttäuschen. Bald verwirrte sie mich nicht mehr mit engelgleicher Schönheit, sondern mit dreistelligen Körpermaßen.