Objekt des Selbsthasses

Einst war das Tempodrom Symbol des alternativen Westberlin. Nun ist es ideologisch und finanziell bankrott. Das wird ihm die linke Szene nie verzeihen – weil sich darin ihr eigener Sündenfall spiegelt

VON ROLF LAUTENSCHLÄGER

Über Sündenfälle lacht man nicht. Auch nicht, wenn es sich um einen Zirkus handelt. Eher gibt man sich gerade dann recht päpstlich. Die Affäre um das Berliner Kulturzelt Tempodrom weckt diese Assoziationen. Seit Anfang dieser Woche ein parlamentarischer Untersuchungsausschuss die Arbeit aufnahm – zur Ermittlung der Kostenexplosionen von 16 auf 33 Millionen Euro für den Bau –, hat die Terminologie in der Hauptstadt inquisitorischen Charakter angenommen. „Lückenlose Aufklärung“ samt „staatsanwaltliche Untersuchungen wegen Untreue im Amt“ lauten die Anwürfe. Es gibt Angeklagte und Hintermänner, als handele es sich beim Tempodrom um den Leibhaftigen in Person. Ist es das? Wohl kaum. Eher geht es um die Begleichung einer alten Rechnung.

Niemand zieht in Zweifel, dass beim Bau des Tempodroms am Anhalter Bahnhof getrickst wurde. Berlins SPD-Bausenator Peter Strieder, der „Pate“ (Spiegel), hat das neue Kulturzelt 1996 in seinen Wahlbezirk Kreuzberg gelotst. Zweifelsfrei ist auch, dass Tempodrom-Gründerin Irene Moessinger die Kosten für den Zeltbau aus Beton ab dem Jahr 2000 nicht mehr im Griff hatte.

Mehrmals hat das Land mit Finanzspritzen nachgeholfen. Erst mit rund 7 Millionen Euro, dann kamen 1,7 Millionen Euro von der Investitionsbank Berlin auf Initiative Strieders hinzu, um den Kultbau nicht in die Insolvenz schliddern zu lassen. Schließlich übernahm Berlin noch eine Landesbürgschaft in Höhe von circa 10 Millionen Euro. Und damit die Sache noch Geschmack bekommt, soll Bauunternehmer und Tempodrom-Förderer Roland Specker, der einmal Christos Reichstagsverhüllung managte, mit 4.700 Euro eine SPD-Wahlparty gesponsert haben. Zum Dank an SPD-Freund Strieder gewissermaßen.

Cool ist das nicht. Und sollte sich herausstellen, dass der Bausenator unrechtmäßig gehandelt hat, muss er zur Verantwortung gezogen werden. Dass dennoch jetzt der Begriff von der kriminellen Energie zwar nicht in den Mund genommen, aber doch gedacht wird, macht skeptisch. Als „alternative Bankgesellschaft“ hat etwa Exjustizsenator und Grünen-Oldie Wolfgang Wieland die Vorgänge um die Baufinanzen für das neue Tempodrom bezeichnet – als ginge es um Parteispenden, Bauspekulation, Milliardenkredite und Hinterziehungen im großen Stil. Dass ausgerechnet die Grünen, linke und alternative Medien oder PDS-Abgeordnete beim Tempodrom die Hinrichtung fordern, hat Kabarettist Arnulf Rating als „große Enttäuschung“ ausgemacht über ein einst „identifikatorisches Projekt“ des alternativen Westberlin, das es so nicht mehr gibt. Da hasst man das Projekt wie sich selbst, ist desillusioniert über den Verlust linker kultureller Wärmestuben.

So ist das mit Mythen. Angefangen hat das mit „dem großen Erbe 1973“ von Irene Moessinger, der Tempodrom-Chefin. Die „Millionenerbin“ hauste damals in Deutschlands erstem besetzten Haus, dem Kreuzberger „Rauch-Haus“. Mit dem Geld kaufte sie sich 1980 ein Zirkuszelt, baute es auf dem staubigen Potsdamer Platz auf – und die Berliner strömten samt ihren westdeutschen Freunden ins Tempodrom. 1984 zogen Moessinger und ihr Zelt vom Potsdamer Platz an die Kongresshalle im Tiergarten und holte Nina Hagen, John Lee Hooker und Rio Reiser auf ihre Bühne. Nebenan wohnte man im Zirkuswagen, der Dalai Lama zündete Räucherstäbchen an, und draußen trank die Szene Bier an Holztischen. Das war geil.

Der linke Sündenfall begann, als das neue Bundeskanzleramt 1995 den Standort beanspruchte, Moessinger und Co. vertrieb und diese sich statt eines luftig-bunten Treffpunkts für den pompösen Mammutbau aus Beton entschied – samt kommerziellem Programm. Den Wandel hat ihr die Szene nie verziehen, schon gar nicht, dass der Beweis geliefert wurde, dass Linke nicht rechnen können und Kosten aus dem Ruder laufen. Darum droht jetzt die Vertreibung aus dem alternativen Paradies. Also fordert man die Höchststrafe.