Gedanken gucken

Gert Scobel nimmt den Zuschauern einiges an Kopfarbeit ab: Er denkt laut, andere schauen zu. Nun auch im Magazin „Delta“ (21.00 Uhr, 3sat)

VON CLEMENS NIEDENTHAL

Gert Scobel hat ein Lieblingsbuch. Wer häufig oder auch nur hin und wieder „Kulturzeit“ auf 3sat sieht, könnte das wissen: Robert Musils „Der Mann ohne Eigenschaften“. Es habe ihm jene nicht nur sprachlich feine, zwinkernde Ironie gelehrt, mit der er seine „Kulturzeit“-Moderationen zu Erkenntnishappen formt. Gert Scobel gucken ist immer ein wenig wie ein gutes Gespräch, bei dem man selbst gerade nicht zu Wort gekommen ist.

An einem Donnerstagvormittag sitzt Scobel in seinem Billy-Bücherregal-bekleideten Büro am Mainzer Lerchenberg. Einem Ort, der fast symbolisch für die gute, alte Idee vom Bildungsfernsehen stehen könnte: Man folgt langen, dunklen Gängen, steigt Treppe um Treppe hinab – und blickt plötzlich unversehens in die Vormittagssonne der Erkenntnis. Das ZDF-Sendezentrum II, in dem auch Scobels Arbeitgeber 3sat residiert, ist am Hang gebaut.

Eigentlich aber funktioniert die Scobel’sche Idee vom Bildungsfernsehen – und wahrscheinlich sogar vom Fernsehen an sich – genau anders herum. Am Beginn seiner Exkursionen unter die Oberflächen des Alltags steht selten der dunkle Gang. Eher schon die einladend illuminierte Oberfläche als solche. Genau das würde er auch an vielen amerikanischen Philosophen schätzen, wählt Gert Scobel einmal mehr den Umweg über den Inhalt seines Billy-Regals, „die fangen ganz leicht und spielerisch an, und nach zehn, fünfzehn Seiten steht man auf einmal mitten drin im Problem.“

Und in Problemen steht der 44-jährige studierte Philosoph und Theologe merklich gerne. Im „Problem-Dschungel“, wie er es nennt. Einem urwüchsigen Kulturraum, den er gemeinsam mit seinen Zuschauern in einen französischen Park verwandeln möchte: „Ich glaube fest daran, dass man philosophische Fragen weitestgehend verständlich machen kann.“ Und ein wenig später: „Ich möchte mir und anderen Menschen helfen, Dinge zu sehen, die so vorher nicht zu sehen waren.“

Vielleicht ist der französische Park doch eher ein japanischer Zen-Garten? Ein wenig wie die Kulisse von „Delta“, jenem neuen, vierzehntägigen Denkmagazin, dessen Redaktionsleiter der Moderator mit der Vorliebe für den dunkelblauen Anzug mit der roten Aids-Schleife auch ist.

Zum Sendestart vor zwei Wochen gedachte man Immanuel Kants zweihundertsten Todestags. Die heutige Folge indes könnte deutlicher skizzieren, worum es in „Delta“ künftig gehen soll: um eine Phänomenologie der Gegenwart – zumal wenn sich diese in ein Kellerverlies in einem wallonischen Reihenhaus verirrt: Marc Dutroux, vor allem aber „die perverse Gesellschaft“, die in einem wie ihm nur ihre extremte Ausformung gefunden hat, sind heute Abend Thema der interdisziplinären Gesprächsrunde. Inhalte mit Tiefgang, die Scobel sicher mehr am Herzen liegen als die Moderation des „ARD-Morgenmagazins“, die er immerhin zwei Jahre durchgehalten hat. So richtig gut gepasst hat er nicht ins Frühstücksfernsehen, wo die Moderatoren in aller Herrgottsfrühe zwar auch die Welt erklären, jedoch auf etwas volksnähere Weise, als es offenbar Gert Scobels Mission ist: „Es käme im Fernsehen wirklich darauf an, das Gewohnte anders zu zeigen und dadurch durchschaubar zu machen.“ Dieses Credo seiner neuen Sendung hat er sich von Theodor Wiesengrund Adorno geliehen. Der Satz gleicht einem Versprechen, das der deutschen Fernsehlandschaft ziemlich gut tun würde – vorausgesetzt, „Delta“ hält Wort.

Wurde doch gerade der akademische Diskurs in Formaten wie dem blitzgescheiten „Philosophischen Quartett“ zuletzt mehr und mehr sich selbst überlassen. Und steht doch die werktägliche „Kulturzeit“, deren allererste Ausgabe Scobel 1995 moderierte, für eine ziemlich glückliche Melange aus Interventionsjournalismus, Kulturfunk und Alltagsethnologie.

Film – und damit auch Fernsehen – sei die Sichtbarwerdung von Gedanken, hat Gert Scobel kürzlich in „sonntags – TV fürs Leben“ (ZDF) gesagt, der nunmehr dritten von ihm moderierten Sendung. Scobels Wille zum Wissen im Fernsehen hat für die Zuschauer also einen hübschen, wenn nicht sogar praktischen Nebeneffekt: Sie können Gedanken gucken.