„Der gesetzliche Mindestlohn bringt nichts“, sagt Gert Wagner

In Frankreich und den USA bestimmt der Staat, wie viel Arbeiter wenigstens verdienen. Warum nicht in Deutschland?

taz: Bisher handeln Gewerkschaften und Arbeitgeber die Mindestlöhne frei aus. Das soll nun der Staat tun, so kürzlich der Chef der Dienstleistungsgewerkschaft Ver.di, Frank Bsirske. Ist das eine sinnvolle Forderung?

Gerd Wagner: Nein. Richtig ist, dass seit etwa 30 Jahren ein Problem existiert. Die früheren 490- und 630-Mark-Jobs dienten ja schon immer dazu, millionenfach die tariflichen Mindestlöhne zu unterlaufen. Aber ein staatlicher Mindestlohn ist ein untaugliches Instrument, um dieses Problem zu lösen.

Warum?

Weil die Tarifparteien besser als der Gesetzgeber wissen, was in einzelnen Branchen noch produktiv erwirtschaftet werden kann. Mindestlöhne sollten weiterhin in Tarifverhandlungen festgelegt werden.

Aber offenbar hat Ver.di den Eindruck, dass die Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen bei der Wirtschaft kein Gehör finden. Daher der Ruf nach dem Staat?

Mag sein. Trotzdem hat die Einigung in Tarifverhandlungen bessere Chancen – wenn sie flexibel genug ist.

Hat die Mindestlohnforderung eine realistische Chance, umgesetzt zu werden?

Bsirske hat durchaus Verbündete, etwa die SPD-Linke. Andererseits steht Ver.di bei den Gewerkschaften ziemlich allein da, nicht mal die IG BAU oder die IG Metall machen mit. Der Hintergrund von Bsirskes Idee scheint mir zu sein, dass Ver.di in einem schwierigen Anpassungsprozess steckt. Die Forderung nach dem gesetzlichen Mindestlohn halte ich für einen Testballon. Wenn der nicht steigt, wird Bsirske nichts übrig bleiben, als über tarifliche Lösungen im unteren Lohnbereich nachzudenken.

Derzeit wird alle paar Wochen über die Notwendigkeit einer neuen Untergrenze beim Lohn geredet. Warum eigentlich, was hat sich geändert?

Die rot-grüne Bundesregierung hat – das ist sozialpolitisch vernünftig – mit der Agenda 2010 den Druck auf die Langzeitarbeitslosen erhöht. Um längere Joblosigkeit künftig zu verhindern, müssen Arbeitslose in Zukunft auch Stellen annehmen, wenn die Bezahlung unter dem ortsüblichen Tarif- und Lohnniveau liegt. Nun sehen wir zwei widerstreitende Argumentationen: Die Gewerkschaften wollen zu Recht Arbeitslose vor unanständig niedrigen Jobangeboten schützen und Lohnsenkungen auf breiter Ebene verhindern. Kanzler Schröder und die Union hingegen stellen in den Vordergrund, dass Unternehmen zusätzliche Jobs anbieten, wenn die Beschäftigten billig sind.

Nun existiert ja schon eine faktische Untergrenze für die Bezahlung: die Sozialhilfe. Wer am Markt weniger verdienen würde, geht zum Sozialamt. Warum also jetzt die Mindestlohndebatte?

Weil Langzeitarbeitslosen neuerdings tatsächlich die Sozialhilfe gekürzt wird, wenn sie schlecht bezahlte Jobs ablehnen. Und es könnte politisch entschieden werden, die Sozialhilfe weiter zu senken.

Aber das spricht doch für einen gesetzlichen Mindestlohn. Den gibt es ja nicht ohne Grund in den USA, in Frankreich und Großbritannien.

Ich bezweifle, dass Ver.di wirklich einen einheitlichen Mindestlohn möchte wie in den Vereinigten Staaten. Dort beträgt er 5,15 Dollar. Für die prosperierenden Branchen ist das lächerlich niedrig. Die zahlen sowieso mehr, weil sie motivierte Mitarbeiter haben wollen. Andere Branchen bekommen durch den Mindestlohn sogar ein Argument, den Lohn zu senken.

Aber die Mindestlöhne in den reichen Staaten Europas liegen bei 1.100 bis 1.200 Euro – wesentlich höher als die deutsche Sozialhilfe. Also ist die Befürchtung, dass der Mindestlohn zu Lohnsenkungen führt, unberechtigt?

Es geht nicht um Befürchtungen. Ich sage nur, dass ein niedriger Mindestlohn wie in den USA nicht im Interesse der Gewerkschaften sein kann. Ich nehme eher an, dass ein gesetzlicher Mindestlohn hierzulande zu hoch ausfallen würde. Wenn sich die Untergrenze aber an den heutigen, recht komfortablen Tarifverträgen orientierte, würde sie keine Arbeitsplätze schaffen. Langzeitarbeitslose sind ja am Anfang ziemlich unproduktiv. Sie erwirtschaften den Unternehmen wenig Geld. Deshalb müssen die Löhne niedrig sein, um Firmen einen Anreiz zu geben, Langzeitarbeitslose überhaupt einzustellen.

INTERVIEW: HANNES KOCH