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: HELMUT HÖGE über verschiedene Hochzeiten

Fade-Away der Arbeiterklasse

Meine Eloge auf die Arbeiter, speziell die Setzer, fiel der erweiterten taz-Ereignisberichterstattung über den Kampftag der Arbeiterklasse zum Opfer. Und dann konnte ich mich nicht mal mit dessen staatstragendem Tenor identifizieren – während ich am Rand erst der „Autonomen“ und dann der „Revolutionären 1.-Mai-Demo“ stand.

Hier – in Prenzlauer Berg – waren die Leute etwas besser angezogen als in Kreuzberg. Die Musik war dieselbe. Ich vermisste jedoch hier wie dort den Bezug zum 1. Mai. Und doch verkörperten die meisten jungen Teilnehmer, von denen die einen mehr künstlerisch und die anderen eher kollektivistisch orientiert wirkten, das derzeitige politökonomische Dilemma.

Dieses hatte sich zuvor auf der großen Gewerkschaftsdemo durchs Regierungsviertel artikuliert. Hier protestierten sowohl glückliche Arbeitslosengruppen als auch Branchenvollbeschäftigte, inklusive Polizei, ferner maoistische Kurden, kommunistische Iraner, freidemokratische Antigewerkschaftler und in Säcken gekleidete Beamte – einträchtig gegen den SPD-Kanzlerkurs. Im Übrigen war der ganze Zug mit Ver.di-Fahnen durchsetzt. Wenn man wollte, konnte man meinen: Hier in Mitte demonstrierten die Beschäftigten der Arbeitsämter, Sozialämter, Schulen etc. Und dort in Kreuzberg randalierte anschließend ihre junge Klientel.

Ein DGBler klärte mich aber am Görlitzer Bahnhof auf: Bei der großen Ver.di komme es nicht selten vor, dass in den Ämtern nun auf beiden Seiten der Schreibtische Gewerkschaftskollegen Platz nähmen. Sogar im Abschiebeknast passiere es, dass ein bei Ver.di organisierter Schließer – dort Meister genannt – auf einen bei Ver.di als Mitglied geführten Häftling stoße. In der neuen Dienstleistungsgewerkschaft würde man solche „Probleme“ aber nicht diskutieren – etwa mit einem „Antikonfliktteam“. Sie artikulieren sich deswegen auf verschiedenen Demos.

Ähnliche Probleme hat auch die IG Metall, die in Berlin-Brandenburg zum großen Teil aus Arbeitslosen und Rentnern besteht, aber eine ganz andere Klientel (nämlich beschäftigte Metallarbeiter) bedient – also fast schon Minderheitenpolitik betreibt. Und diese stößt zunehmend – wenigstens bei jungen Mitgliedern – auf Traditionsfeindlichkeit: Sie wollen nicht mehr stolz hinter Fanfarenzügen hermarschieren, sondern eine pragmatische, transparente Interessenvertretung. Etwa so ständisch-erfolgreich wie die der Fluglotsen und der Lokführer. Ein IG-Metall-Aktivist meinte enttäuscht: „Ich habe meine Kollegen wochenlang bearbeitet, das war schon fast nervig, aber kaum einer ist zur Demo gekommen!“

Dafür war der Verband der betrügerisch mit einer unvermietbaren Eigentumswohnung Geschlagenen nahezu vollzählig erschienen. Auch die Anarchisten der FAU, die gerade ihr neues Vereinslokal in Prenzlauer Berg eröffneten und eine Filmserie über neue Arbeitskämpfe in den USA zeigten, schwenkten auf allen drei Demonstrationen ihre rotschwarzen Arbeiterfahnen.

Kein Wunder, dass viele Organisatoren und Aktivisten von den tagelangen Vorbereitungen abends völlig erschöpft waren, während die Touristen aus Baden-Württemberg und Spanien sich prächtig über das unorganisierte Randale-Nachspiel amüsierten – und die (meist türkischen) risikofreudigen Wirte Rekordeinnahmen erzielten.

Von einem bekam ich morgens um zwei sogar ein Jobangebot – am Zapfhahn. Ich lehnte jedoch dankend ab: Irgendwann muss sich jeder entscheiden, auf welcher Seite der Theke er stehen will.