Wie die Zeit verstreicht

Die Liebe zum sterbenden Handwerk: „Manzan benigaki – Der ganze Berg ist voller roter Kakipflaumen“, ein Dokumentarfilm von Ogawa Shinsuke und Peng Xiaolian

„Manzan benigaki – Der ganze Berg ist voller roter Kakipflaumen“: Das klingt so blumig wie eine Zen-Meditation oder der Name einer Kung-Fu-Formation. „Der weiße Affe stiehlt den Pfirsich.“ Doch der Titel des japanischen Dokumentarfilms ist wörtlich zu verstehen. Es geht um Kakipflaumen, um die Ernte, den Prozess des Trocknens und um den Vertrieb. Und es geht um Kaminoyama, eine bergige Region im Norden der Hauptinsel Honshu. Dort wachsen die rötlichen Früchte, die Dörfer sind klein und die Menschen, die darin leben, alt.

Der japanische Dokumentarfilmregisseur Ogawa Shinsuke reiste 1984 nach Kaminoyama. Er hielt dort etwas fest, was es heute nicht mehr gibt: die vorindustrielle Produktion getrockneter Kakipflaumen. Er hat sich die Arbeitsabläufe von den Bauern erklären lassen, er hat den Schmied aufgesucht, der spezielle Schälmesser herstellt, er ist von Dorf zu Dorf gefahren, um herauszufinden, wer zum ersten Mal eine Schälmaschine einsetzte. Bei fast allen Arbeitsschritten werden die Früchte einzeln behandelt. Die Männer und Frauen, die die Tätigkeiten ausführen, bringen ein großes Wissen mit, viel Sorgfalt und eine Art stiller Liebe für ihr Handwerk, obwohl recht klar zu erkennen ist, wie mühsam die einzelnen Arbeitsschritte sind. So wenig Ogawa Shinsuke die Härte bäuerlicher Existenz beschönigt, so wenig idealisiert er die Natur: Im Film und in den Berichten der Bauern nimmt sie die Rolle eines freundlich gesinntenProduktionsmittels ein. Denn der Wind, die Sonneneinstrahlung, der Grundwasserpegel, der Nebel, der sich in den Morgenstunden bildet, sie alle haben Anteil an der Herstellung des Trockenobstes. Und natürlich das Verstreichen der Zeit: Im Herbst sind die Früchte reif; bis in den Dezember hängen sie an Schnüren, um zu trocknen, bis zum März werden sie vertrieben. Danach ist die Zeit der Kakipflaume vorbei.

Die Aufnahmen in Kaminoyama sollten Teil der Dokumentation „Magino Village – A Tale“ (1986) werden, wurden aber herausgeschnitten. Ogawa Shinsuke fertigte später eine Rohschnittfassung von „Manzan benigaki“ an. Doch er starb 1992, bevor er den Film abschließen konnte. Die chinesische Regisseurin Peng Xiaolian, eine Schülerin Ogawa Shinsukes, nahm sich des Originalmaterials an; sie stellte den Film vor zwei Jahren fertig. Die Produktion von „Manzan benigaki“ hat sich also über einen langen Zeitraum erstreckt, und dieser Prozess zieht sich wie ein Subtext durch den Film, so dass sich die Herstellung der Dokumentation in der Herstellung des Trockenobstes spiegelt. Zumal Ogawa Shinsuke mit ähnlich viel Wissen, Ruhe und Liebe ans Werk geht wie die Bauern aus Kaminoyama. Wenn man weiß, dass ihre Arbeit im Verschwinden begriffen ist, ahnt man eine schreckliche Sekunde lang, dass auch Ogawa Shinsukes Handwerk aussterben wird.

So ist „Manzan benigaki“ vor allem eine Meditation über das Voranschreiten der Zeit und über das, was dieses Voranschreiten unter sich begräbt: die alte Tradition der Kakipflaume, die Menschen, die schon 1984 alt waren und tot, als Peng Xiaolian die Arbeit am Film wiederaufnahm, die Lebenszeit, die im Kino verstreicht. Das ist melancholisch, aber nicht sentimental. Und die Früchte der Arbeit? Niemand isst eine Kakipflaume, in keiner Szene des Films. CRISTINA NORD

„Manzan benigaki – Der ganze Berg ist voller roter Kakipflaumen“. Regie: Ogawa Shinsuke, Peng Xiolian, Japan 1984/ 2001, 90 Minuten