Kaschmirs kleiner Grenzverkehr

In Kaschmir hat der seit dem vergangenen November gültige Waffenstillstand zwischen Indien und Pakistan eine ganz eigene Dynamik ausgelöst. Während sich die Bevölkerung näher kommt, rüsten die Militärs für den nächsten Krieg

DELHI taz ■ Im äußersten Norden von Kaschmir bildet der Fluss Kischanganga die Waffenstillstandslinie zwischen Indien und Pakistan. Die enge Talsohle ist dort alles andere als eine natürliche Grenze, bilden die Dörfer entlang des Flusslaufs doch seit Jahrhunderten eine Talgemeinschaft. Auch als der Waffenstillstand nach dem Krieg von 1971 das Tal plötzlich entzweischnitt, ging der kleine Grenzverkehr mit Tauschhandel, Hochzeitsbesuchen und der gemeinsamen Teilnahme an religiösen Festen weiter. Doch nach 1989, als im indischen Teil von Kaschmir ein Guerillakrieg begann und die Passwege zu Infiltrationsrouten für schwer bewaffnete Untergrundkämpfer wurden, verwandelte sich der Kischanganga in eine heiße Grenze.

Beinahe täglich kam es von den Stellungen über den Bergkämmen aus zu Artilleriegefechten, speziell von indischer Seite. Denn von dort aus konnte die indische Armee am Nanga Parbat vorbei direkt den Karakorum Highway zwischen Pakistan und dem chinesischen Xinjiang treffen. Der Kischanganga wurde so zu einem streng bewachten Fluss, und die Hirtenfamilien im Neelam Valley, wie das Tal in Pakistan heißt, mussten froh sein, wenn sie überhaupt ihre eigenen Dörfer – und manchmal sogar ihre Häuser – verlassen konnten.

Seit zwei Monaten ist alles wieder anders. Im November 2003 vereinbarten die beiden Staaten einen Waffenstillstand, und die Kontrollen entlang der Grenzlinie begannen sich zu lockern. Es brauchte einige Wochen, bis auch die Leute Mut fassten und wieder ans Flussufer gingen, um den fernen Nachbarn zuzuwinken und über das Getöse des Flusses hinweg einige Worte zu wechseln. Das Beispiel wirkte ansteckend, die Begegnungen talauf und talab wurden häufiger, Flaschenpost wurde in den Fluss geworfen, dann auch Pakete mit Nahrungsmitteln und Kleidern für Verwandte, die sich seit fünfzehn Jahren vielleicht gesehen, aber nie mehr getroffen hatten.

Am 18. Januar kam im Dorf Teetwal jemand auf die Idee, den Lautsprecher der Moschee zu benutzen, um alle Bewohner der umliegenden Weiler zu einer Dorfversammlung einzuladen. Auf beiden Seiten standen die Menschen im Schlamm und Regen, winkten sich unter den Regenschirmen zu, Frauen weinten, während junge Männer Wetten eingingen, ob ihre Würfe auf dem andern Ufer oder im Wasser landen würden.

Andere Dörfer folgten dem Beispiel, und es dauerte nicht lange, bis es einigen Leuten auf beiden Seiten gelang, ein Seil zu spannen, auf dem Körbe mit Geschenken hin- und hergeschaukelt wurden. Mitte Januar war daraus bereits ein reger Tauschhandel geworden, bei dem Textilien gegen Hühner, Öl gegen Decken und Linsen ausgetauscht wurden, begleitet von Einladungskarten für Geburts- und Hochzeitsfeste oder Geldumschlägen für Verwandte.

Das wurde der indischen Armee dann aber doch zu viel, denn wer weiß, vielleicht würden in den zugedeckten Körben bald Handgranaten und Munitionsgurte über den Fluss gehievt. Nach Berichten der Tageszeitung The Hindu beendete die Armee zunächst den kleinen Grenzverkehr.

Auch die Pakistaner schritten ein, nachdem sich am 26. Januar, dem indischen Nationalfeiertag, rund 10.000 Menschen auf beiden Flussseiten versammelt hatten, um zuzusehen, wie in den indischen Weilern die Nationalfahne gehisst wurde.

Doch der Waffenstillstand hat nicht nur zu einer Verbrüderung der Hirten und Bauern des Neelam-Tals geführt. Auch die beiden Armeen nutzen die Gunst der Stunde, nehmen sich aber am Verhalten ihrer eigenen Zivilbevölkerungen kein Beispiel. Statt Essensrationen auszutauschen, folgen sie lieber Lenins Spruch, wonach Vertrauen gut, Kontrolle aber besser ist.

Auf beiden Seiten des Flusses wird das Schweigen der Kanonen dazu genutzt, um Zement und Sand heranzuschaffen, Laufgräben zu ziehen, Stellungen auszubessern und Bunker zu verstärken. Und die Inder bauen auf dem Bergkamm eifrig weiter an ihrem Abwehrzaun gegen Infiltrationen.

Auf der pakistanischen Seite, wo die Talhänge viel steiler und exponierter sind – dahinter baut sich mit den Pangi-Bergen bereits das Nanga-Parbat-Massiv auf – sollen laut Hindu sogar ganze Hügelpartien gesprengt worden sein.

Die Detonationen, deren Echo das ganze Tal ausfüllt, stammen zwar nicht von Kanonen. Sie sind aber eine lautstarke Mahnung an die Bewohner diesseits und jenseits des Kischangangas, dass ein Waffenstillstand eben noch kein Frieden ist. BERNARD IMHASLY