in fußballland
: CHRISTOPH BIERMANN über Verteidiger

Tanzen mit der Hässlichsten

Der Wunsch, ein Lob des Verteidigens zu versuchen, folgt keinem großen Plan und keiner grundsätzlichen Revision, sondern nur einer momentanen Stimmung. Denn eigentlich habe ich Verteidiger noch nie gemocht. Sie stehen im Weg herum und versuchen zu verhindern, was beim Fußball am meisten Spaß macht: Tore zu schießen. Der Verteidiger ist derjenige, „der beim Ball immer mit der Hässlichsten tanzen muss“, sagt Cesar Luis Menotti, der große argentinische Trainer-Schwadroneur.

Vielleicht liegt es daran, dass Verteidiger stets so viel häufiger Schnauzbärte hatten als alle anderen Spieler. Gibt es einen Zusammenhang zwischen dem Wunsch, Tore zu verhindern, und dem, über der Oberlippe behaart zu sein? Liegt es daran, dass diese Männer ihr Leben einem strengen Realismus und der Idee gewidmet haben, dass man gestellte Aufgaben bewältigen muss?

Ich weiß es nicht, denn ich verstehe Verteidiger nicht. Der einzige, den ich je geliebt habe, hieß Gerd Wiesemes. Er spielte zu Beginn der 70er-Jahre bei Westfalia Herne, und wenn man ihn aus der damaligen Zeit ins Heute versetzen würde, hätte das einen ähnlichen Effekt wie das Auftauchen der Dinosaurier in Jurassic Park. Wiesemes hatte keinen Schnauzbart, aber beeindruckende Koteletten – und noch viel imposantere Oberschenkel. Sie waren doppelt so dick wie die von Gerd Müller. „Der geht zum Training Eisenbahnschwellen treten“, sagte mein Onkel über Wiesemes. Mein Onkel sagte immer so komische Sachen, etwa, dass ein anderer Spieler von Westfalia nur einen Kopf hätte, damit kein Wasser in den Hals läuft.

Gerd Wiesemes gab mir ein Gefühl der Sicherheit. In seiner holozänartigen Massigkeit war er mein Garant dafür, dass hinten schon nichts anbrennen würde. Dass ich mir keine Sorgen machen musste, selbst wenn der furchterregende Darius Scholticzyk von den Sportfreunden Siegen auflief, der als Stürmer das monsterhaft passende Äquivalent zu Wiesemes war. Kam es zwischen den beiden zu einem Pressschlag, knallte es wie bei einem Bombentest und ich wunderte mich, dass der Ball diese Begegnung unbeschadet überstand. Wiesemes repräsentierte ein Urmodell des Verteidigens, das heute keine Rolle mehr spielt, wo man von den Sicherungskräften längst eine gute Technik und sauberes Passspiel erwartet. Wiesemes war nur rohe Kraft und humorlose Entschlossenheit, aber er war der Beschützer des Tores und ich ihm deshalb zu Dank verpflichtet.

Heute, wo dieses Beschützen als ein über den ganzen Platz gespanntes Sicherheitsnetz kollektiviert ist, in das sich fast alle Spieler verweben müssen, ist Verteidigen eine Kunstform. Das Land, in dem sie besonders gepflegt wird, ist Italien. Italienische Verteidiger haben meistens keine Schnäuzer, sondern sehen so gut aus wie ihre Kollegen im Sturm. Vielleicht liegt es daran, dass sie in Italien keiner niederen Kaste angehören, wie das anderswo der Fall ist.

Es hat etwas Kontemplatives, italienischen Mannschaften in ihrem Bemühen zuzuschauen, das Spiel des Gegners zu unterbinden und den besten Stürmern der Welt keine Torchance zu geben. Und es gibt Tage, an denen mich das mit großer Zufriedenheit erfüllt. Dann finde ich es nicht hässlich, sondern die Idee beruhigend, ein Spiel nicht zu verlieren statt es gewinnen zu müssen. Dann ist die Welt voller schützender Kräfte, die ihre ganzen spielerischen Fähigkeiten der großen Aufgabe unterordnen, kein Tor zu kassieren. Die all ihr Denken allein auf dieses Ziel ausrichten und dabei zu größten Verfeinerungen kommen.

Das sind die Tage, an denen ich dem Zauber von Juventus Turin erliege, Nesta bejubeln möchte oder Stam, die Wiedergeburt von Gerd Wiesemes aus dem Geist des 21. Jahrhunderts. Dann kann mir Menotti den Buckel runterrutschen und ich schaue mir noch mal das Tackling von Frank de Boer gegen Ronaldo beim Halbfinale der WM in Frankreich an. Denn gab es je ein besseres?

Doch diese Tage gehen vorbei und mein Interesse wendet sich bald wieder ganz zu denen, die mit dem Ball am schönsten tanzen.

Fotohinweis: Christoph Biermann, 42, liebt Fußball und schreibt darüber.