„Wie das Chaos kam und blieb“

Fernando Meirelles Gangsterepos „City of God“ erzählt die Geschichte einer Favela in Rio de Janeiro. Ein Gespräch mit dem brasilianischen Regisseur über die Arbeit mit Laiendarstellern, publikumsfreundliche Filme und das Erbe des Cinema Novo

Interview UTE HERMANNS

taz: Herr Meirelles, „City of God“ geht auf einen Bestseller von Paulo Lins zurück. Der Roman wurde schon ins Französische und Englische übersetzt, in Deutschland scheuen sich die Verlage vor den 600 Seiten. Wie haben Sie aus dem Roman die Struktur des Films gewonnen?

Fernando Meirelles: Es ist ein Episodenroman ohne Struktur. Paulo Lins erzählt die Geschichte unzähliger Protagonisten, die meistens nach zwanzig Seiten sterben. Ein Zweistundenfilm funktioniert aber nur mit Struktur. Aus filmsprachlichen Gründen mussten wir die Geschichte zerlegen. Ich wollte der brasilianischen Mittelschicht eine unbekannte Realität zeigen. Wir sehen Favelas, lesen Zeitung, wissen aber nichts. Die Entwicklung der Dinge im Lauf der Zeit, wie das Chaos kam und blieb: Das sollte zu spüren sein. Die Struktur des Films hat nichts mit dem Roman zu tun.

Zum Beispiel gibt es eine Hauptfigur.

Ja, Buscapé ist für uns das Alter Ego des Autors Paulo Lins. Man sieht das Geschehen mit seinen Augen. Er ist nicht kriminell, spürt aber, wie das Chaos zunimmt.

Der Film geht auf die Anfänge der Favela Cidade de Deus zurück. Wie kam es dazu?

Rio de Janeiro hat heute über hundert Favelas, in denen es organisiertes Verbrechen gibt. Drei Fraktionen haben die Kontrolle: O Comando Vermelho, O Terceiro Comando und die Amigos dos Amigos, also ehemalige, vom Dienst suspendierte Polizisten, die mit den Drogenhändlern arbeiten. Am Ende des Films übernimmt Zé Pequeno das Kommando über ein Gebiet. Das geschah tatsächlich: Jede Favela hatte einen Boss. In den letzten zwanzig Jahren wurden einige Bosse stärker und übernahmen Favelas von nebenan. Wenn diese Typen nicht bald geschnappt werden, wird Brasilien vielleicht ein zweites Kolumbien.

Es gibt noch andere Filme, die mit Amateurschauspielern aus den Favelas arbeiten, zum Beispiel „Pixote“ („Asphalthaie“, 1980) von Hector Babenco oder „Notícias de uma guerra particular“ („Nachrichten aus einem persönlichen Krieg“, 1999) von João Moreira Salles. Was ist besonders an der Favela Cidade de Deus und an der Arbeit mit Favelados?

Jeden Tag kommen im brasilianischen TV Nachrichten: „Zwei Jungen wurden umgebracht“, „Meuchelmord“. Für Angehörige der Mittelschicht, die in der Stadt leben, ist das nur ein Nachrichtenzipfel. Der Roman von Paulo Lins zeigt Hintergründe für diese Verbrechen. Als er elf war, zogen seine Eltern mit ihm nach Cidade de Deus. Acht Jahre hat er dieses Buch geschrieben. Kein einziges Werk in der brasilianischen Literatur hat je die Favela aus einer so intimen, wahren Perpektive gezeigt.

War das der Auslöser für den Film?

Genau dieses Gefühl wollte ich vermitteln. Der erste Kunstgriff war also, die Dreharbeiten in die Favelas zu verlegen. Riskant war es, mit den Jungs zu arbeiten, die den Drogenhandel kennen und daher viel Lebenserfahrung zum Film beisteuern können. Über vier Monate hatten wir mit den Hauptdarstellern geübt, bevor wir mit dem Drehen begannen.

Wie viele Berufsschauspieler sind dabei?

Alle weißen Schauspieler über dreißig sind professionell. Bei den Hauptrollen gibt es nur Matheus Nachtergale. Ich wollte eigentlich keine berühmten Schauspieler im Film, doch hatte ich ihn lange für die Rolle des Zé Pequeno vorgesehen. Er sagte: „Keine Angst – ich werde in deinem Film dabei sein und niemand wird es merken. Es ist eine Herausforderung, zurückhaltend zu spielen.“ Er schaffte es – sensationell!

Als die Gruppe von Zé Pequeno einen Überfall plant, betet sie das Vaterunser. Wie kam es zu dieser Szene?

Religionen sind im Leben der Drogenhändler absolut gegenwärtig. Damals verabschiedeten sie sich und sagten: „Tschüs. Glaub an Gott.“ Heute sagen sie: „Geh im Glauben.“ Es gibt eine Sequenz, in der die Schauspieler vor dem Angriff beten. Die Idee dazu verdanke ich einem ehemaligen Drogendealer, der mir sagte: „Wer einen Angriff plant, muss vorher beten.“

Die Kameraführung ist sehr agil und trickversessen – etwa in dem kleinen Zimmer, das als Drogenumschlagplatz dient.

Die Idee zu dieser Wohnung kam mir, weil ich die Geschichte des Ortes aufspüren wollte. So, als würden sich seine Geister dort noch aufhalten. Ich wollte seine Energie einfangen, obwohl alle Leute diesen Ort verlassen.

Und der Zeitsprung bei der Drehung von Buscapé?

Der Schwenk der Kamera um 360 Grad bedeutet eine Rückkehr in der Zeit. Die Idee kam von César Charlone. Schließlich hat der Film eine Struktur, bei der einige Dinge wieder aufgegriffen werden müssen.

Gibt es dafür Vorbilder?

Festivalbesucher sehen eine Ähnlichkeit zu „Pulp Fiction“ von Quentin Tarantino, der dieses Spiel spielt. Tarantino verkehrt die Reihenfolge – für den Zuschauer ein interessantes Verwirrspiel. In „City of God“ soll die Rückblende aber erklären, woher der Typ kommt. Ich will immer das Interesse und die Aufmerksamkeit des Zuschauers wach halten, damit er der Geschichte folgen kann. Das habe ich durch meine Arbeit in der Werbung gelernt – eine große Übung.

Die Musik ist dafür sehr wichtig. Wie waren die Auswahlkriterien?

Der erste Teil ist kontrollierter, klassischer; der zweite Teil lockerer, bewegter, und der dritte Teil wird chaotisch. Die Filmcrew hat keine Kontrolle mehr. Wer den Film sieht, spürt den Kontrollverlust. Das war die Idee, denn unsere Geschichte zeigt das Chaos. Die Musik begleitet es, anfangs mit Samba, dann kommt amerikanische Pop-Musik der 70er, die in Brasilien gern gehört wurde. Im dritten Teil gibt es schon Krieg und keine Musik mehr, nur Effekte. Um das Ganze einheitlich zu machen, haben wir Elemente aus der brasilianischen Musik verwendet: Samba- Funk und brasilianischen Rap.

Die Glaubwürdigkeit des Films beeindruckt. Wie war sie über den ganzen Film hinweg möglich?

Kein Darsteller hat die Dialoge aus dem Drehbuch gelesen. Wir haben den Jungs die Lage erklärt: „Deine Figur macht das. Die Absicht bei dieser Szene ist folgende, es muss witzig, kann nicht gewalttätig sein.“ Das dauerte seine Zeit. Sie spielten und wir besprachen alles: „Dieser Satz kam gut, mach es beim nächsten Mal genauso.“ Oder: „Alles, was du an dieser Stelle gesagt hast, ist überflüssig. Wir proben noch mal!“

Was war das Besondere an den Amateurschauspielern?

Meine Idee – übrigens war sie nicht neu, man denke an Mike Leigh oder Ken Loach – war, den Prozess mitzuerleben, in dem sie etwas erfinden und ihr eigenes Universum einbringen. Brasilien hat übrigens eine lange Tradition, mit Amateurschauspielern zu arbeiten. Sie setzt mit dem Cinema Novo ein und reicht bis „Central do Brasil“.

Apropos Tradition – die Filmkritikerin Ivana Bentes hat eine Debatte über „Ästhetik des Hungers versus Kosmetik des Hungers“ lanciert. Dabei geht es um die Frage, ob die heute in Brasilien erfolgreichen Regisseure das Sujet des Cinema Novo, also das unterentwickelte Brasilien, mit einer raffinierten ästhetisierenden Kamera behandeln und dabei den Anspruch, gesellschaftliche Veränderungen voranzutreiben, aufgegeben haben. Glauber Rochas Ästhetik des Hungers hingegen suchte in den 60ern nach filmisch einfachen Mitteln für ein revolutionäres Kino. Namhafte Filmwissenschaftler wie Jean-Claude Bernardet haben sich zur „Kosmetik“ geäußert, und auch Regisseure von Low-Budget-Filmen sind gegenüber den ästhetisch ausgerichteten Filmen zurückhaltend.

Ich halte diese Diskussion für Blödsinn, sie geht an den Dingen vorbei. Mein Film spricht über die brasilianische Realität und ist publikumsfreundlich. Das zeitgenössische Kino hat den Dialog mit dem Publikum erobert. Für einige ist das ein Verlust. Das Cinema Novo hatte gute Filme, doch außer Kritikern und Intellektuellen kein Publikum.

Es geht doch um eine Art, wie man Brasilien im Film zeigt.

Was ist das Besondere an Filmen wie „Central do Brasil“ („Central Station“) oder „Eu Tu Eles“ („Ich Du Sie“)? Sie zeigen die soziale Realität Brasiliens komplex und gründlich. Das Cinema Novo spricht nur vom Elend. Der Mensch ist von der Geburt bis zum Tod kein Mensch, nur ein Elender. Ich glaube, dass der Reichtum von „Eu Tu Eles“ darin liegt, dass die Protagonistin Darlene in eine Welt eingebettet ist. Sie arbeitet, um ihre Familie zu ernähren. Trotzdem ist sie ein Mensch aus Fleisch und Blut und sucht wie alle ihr Glück. So auch Zé Pequeno in „City of God“: Er entscheidet sich für das Verbrechen. Aber im Grunde möchte er tanzen und lieben, hat eine menschliche Dichte, die im Cinema Novo fehlt.

Das Cinema Novo zeigt keine menschliche Dichte?

Ein Film von Glauber Rocha ist kein Film über Personen oder Psychologie. Glauber hat eine Figur, die den Unterdrückten darstellt. Jede Figur ist eine Allegorie. Das jüngere brasilianische Kino zeigt Menschlichkeit, und das zieht. Aber ich bin nicht gegen das Cinema Novo. Es ist für jeden, der in Brasilien Filme macht, ein Bezugspunkt.

„City of God“ wird Brasilien verändern?

Ivana Bentes hat die Diskussion über die Kosmetik des Hungers eine Woche nach dem Filmstart lanciert. Die schreibende Zunft hat es leicht: Der Film habe nur den Popcorn-Verkauf angekurbelt, nicht zum Nachdenken angeregt. Heute steht fest: Präsident Ignácio Lula da Silva wird wegen des Films eine Gruppe von Ministern in die Favelas schicken.

Kann ein Favelabewohner überhaupt aus dem Teufelskreis ausbrechen?

Anderthalb oder zwei Prozent der Favelabewohner haben direkt mit dem Drogenhandel zu tun. Die anderen, Studenten und Arbeiter, leben ein „normales Leben“. „City of God“ handelt nur von der Mafia, das Thema ist der Drogenhandel. Wenn ich einen Film über die Mafia in New York sehe, muss ich ja nicht meinen, dass alle Leute in New York von der Mafia sind.

„City of God“, Regie: Fernando Meirelles. Mit Alexandre Rodrigues, Leandro Firmino da Hora u. a. Brasilien/Frankreich/USA 2002, 128 Min.