bücher für randgruppen
: Das Gehirn regiert

Es heißt nicht mehr: Wie sieht unsere Zukunft aus? Was ist richtig, was ist falsch? Sondern lapidar: Was sollen wir tun? Mit dem scheinbaren Ende der Ideologien bleiben Ratlosigkeit und ein grauer Klumpen von 1.300 bis 1.600 Gramm Gewicht übrig, der den Gang der Geschichte lenkt und Entscheidungen trifft: Käse- oder Wurstbrötchen? Lenken nun die Träger der Hirne selbstbestimmt ihren Lauf ? Oder ist alles bereits fertig angelegt und niemand kann die festgelegten Grenzen der Anlage überschreiten? Der Gehirnforscher Manfred Spitzer macht Hoffnung. Nicht etwa, weil er erklärt, dass die Funktionsweise des Gehirns viel mit Demokratie zu tun habe – der am häufigsten benutzte Trampelpfad gräbt sich automatisch ein und setzt sich durch –, sondern weil es ihm gelingt, die Fallen und Untiefen unserer Wahrnehmung und Verarbeitung anschaulich, amüsant und ausgesprochen kurzweilig aufzuzeigen und trotzdem ein bisschen Hoffnung auf etwas mehr zu machen. Zwar erinnert die Holzplastik auf dem Cover – zwei expressive Hände umgreifen ein Gehirn – sofort an den unsäglichen Gunther von Hagens und seinen (Kunst-)Kitsch mit Leichen: Mann trägt eigene Haut unterm Arm – andererseits sieht das ernst gemeinte Kunstwerk unter dem Buchtitel „Selbstbestimmen“ dann schon fast wieder lustig aus.

Die Wahrnehmung ist leistungsfähiger als vermutet, … das Ezniige, was wcthiig ist, ist, dass der estre und der leztte Bstabchue an der ritihcegn Pstoiion snid. Wem das zu schwierig ist, dem bleibt immerhin ein Querschnitt durch das kleine, aber sehr sympathische Gehirn des Homer Simpson. Es passt in Länge, Breite und Höhe jeweils insgesamt etwa fünfmal in dessen Schädel und schwimmt munter im Hirnwasser herum. Die vorgestellte Schlauchseescheide dagegen, ein kleines, ziellos im Ozean schwimmendes Tierchen, verfährt mit ihrem Gehirn äußerst lieblos. Heftet sie sich nach langer Irrfahrt erst einmal endgültig an einen Felsen, um zukünftig vorbeischwebende Nahrung aufzunehmen, dann frisst sie ihr Hirn gleich mit auf. Sie verhalte sich eben nicht viel anders als Menschen, die eine feste Arbeitsstelle erhalten haben, wird der Philosoph Dennett zitiert. Die fröhliche Wissenschaft ist in der Lage, auch scheinbar Altbekanntes in neuem Licht erstrahlen zu lassen.

So zeigt ein Foto das die Zunge herausstreckende Baby Ulla, Spitzers Tochter, und daneben Albert Einstein mit gleicher Geste, die seinerzeit einem Paparazzi galt. Mir bislang unbekannt war, dass Einstein zwischen einem Ehepaar saß und später das berühmte Foto so zurechtschnitt, dass nur noch er selbst zu sehen war. Spitzers Buch ist gefüllt mit zahlreichen Beispielen, die der Autor mit den Ergebnissen aktueller Forschung in Verbindung setzt. Zum Beispiel die Diskussion um das Gehirn von Ulrike Meinhof. Spitzer beklagt, dass die Chance vertan wurde, über Gehirn und Schuld zu sprechen, über damalige ideologische Blindheit und Vertuschung naturwissenschaftlicher Tatsachen – womit er sich auf den Blutschwamm im Gehirn von Ulrike Meinhof und dessen operative Behandlung bezieht. Stattdessen habe man über die Aufbewahrung des Gehirns in einer Pappschachtel und die Umstände von dessen neuer Erforschung gesprochen.

Doch auch dort – in der den Angehörigen bis dato unbekannten Entnahme und Lagerung des Gehirns – finden sich Bestandteile einer ideologischen Blindheit oder eines unheimlichen Glaubens an die Wissenschaft, die selbst in Hirnen ohne Krankheitsbefund wachsen können. Natürlich weiß Spitzer das, und so widmet er auch den Selbstmordattentätern im Kapitel „Von der Religion zum 11. September“ einige interessante Gedanken, obwohl deren Gehirne – jedenfalls als materielles Objekt – der Forschung in der Regel entgehen. WOLFGANG MÜLLER

Manfred Spitzer: „Selbstbestimmen“. Spektrum Akademischer Verlag, 2003, 438 Seiten, 29,95 Euro