Von müden Rädern, müden Richtern

Prozess um ICE-Unglück in Eschede vor fünf Jahren soll heute eingestellt werden. Richter fanden bei den drei angeklagten Ingenieuren nur „geringe Schuld“. Gutachter der Deutschen Bahn AG werten Unfall als „nicht vorhersehbares Unglück“

aus Hannover JÜRGEN VOGES

Die „Selbsthilfe Eschede“, der Zusammenschluss der überlebenden Opfer und der Hinterbliebenen des ICE-Katastrophe mit 101 Toten, hat alles versucht, hat auch noch an den niedersächsischen Ministerpräsidenten Christian Wulff geschrieben – ohne Erfolg: Das Strafverfahren vor dem Landgericht Lüneburg wird heute aller Voraussicht nach ohne eine Verurteilung der drei Ingenieure zu Ende gehen, die sich seit August vergangenen Jahres wegen fahrlässiger Tötung in 101 Fällen verantworten müssen.

Der Vorsitzende der in Hannover tagenden auswärtigen Strafkammer hatte vor zehn Tagen nicht nur eine Einstellung des Prozesses wegen „geringer Schuld“ der Ingenieure an dem Unglück angeregt. Richter Michael Dölp, der lediglich eine Geldbuße von jeweils 10.000 Euro für die zwei Bahn-Mitarbeiter und den dritten Ingenieur vom Radhersteller VSG vorschlug, erklärte auch: Die Kammer habe sich bei den Prozessbeteiligten, die einer Einstellung zustimmen müssten, erkundigt, „ob es Sinn macht, sich mit dieser Thematik überhaupt zu beschäftigen“. Staatsanwaltschaft und Verteidigung, die der geplante Einstellung die Zustimmung erteilen müssen, haben demnach der Kammer ihr Ja zu einem Ende des Prozesses ohne Schuldspruch bereits signalisiert. Ihre förmliche Stellungnahme heute in Hannover wird nicht anders ausfallen.

Nach der ursprünglichen Anklage der Staatsanwaltschaft Lüneburg sollen die drei Ingenieure bei der Zulassung und Entwicklung der gummigefederten ICE-Räder erlaubt haben, dass die Radreifen zu stark abgefahren werden. Dadurch hätten sie den Radreifenbruch verschuldet, der dann vor dem Bahnhof Eschede die Katastrophe auslöste. Der Anklage lag ein Gutachten von drei Sachverständigen des Fraunhofer Instituts für Betriebsfestigkeit in Darmstadt zugrunde. Sie gingen davon aus, dass der Reifen wegen „Ermüdung“ und wegen unterschätzter Belastung der Innenseite der Radreifen kaputtgegangen sei. Den Gutachtern der Staatsanwaltschaft standen an den mittlerweile 53 Verhandlungstagen des Prozesses 13 von der Bahn bezahlte Gutachter gegenüber. Die DB-Experten hielten die gummigefederten ICE-Räder für dauerfest. Den Radreifenbruch werteten sie als nicht vorhersehbares Unglück.

Richter Dölp kam in der Begründung, warum das Verfahren eingestellt werden soll, zu dem Schluss, dass die Belastungen der Radreifen auch mit modernsten Computern nur schwer zu berechnen waren. Nur weitere Versuche, die bis zu zwei Jahre dauern würden, könnten über eine Rissbildung durch Überlastung der Reifen Aufschluss geben. Dölp hätte natürlich auch sagen können, dass man die Versuche zur Abschätzung der Radreifenbelastung schon vor Betriebszulassung der Räder hätte durchführen müssen und seinerzeit versäumte. Dann hätte er den Prozess, der in den Augen der Nebenklage lediglich „ein Sachverständigenhearing“ war, allerdings nicht einstellen können.