Gelsenkirchen kreuzunglücklich

Gelsenkirchen droht Deindustrialisierung. Nun sind schon 1.200 Jobs bedroht. Gewerkschafter wollen rechnen und kämpfen: „Die ganze Stadt muss sich wehren“. Eine italienische Stadt macht ihnen Mut

Aus GELSENKIRCHENMANFRED WIECZOREK

In der Ruhrgebietsstadt Gelsenkirchen reiht sich Hiobsbotschaft an Hiobsbotschaft. Nach dem Heizgeräte-Hersteller Vaillant, dem Automobilzulieferer TRW, der Dosenfabrik Rexam, dem Glashersteller Pilkington kündigt nun auch Saint-Gobain an, 200 Arbeitsplätze abzubauen. Noch in diesem Jahr soll die Rohrfertigung des französischen Konzerns in Gelsenkirchen eingestellt werden.

Insgesamt stehen in der Stadt damit rund 1.200 Arbeitsplätze auf der Kippe – bei einer Arbeitslosigkeit von 17,7 Prozent. Oberbürgermeister Oliver Wittke (CDU) will mit dem NRW-Wirtschaftsminister Harald Schartau und „Superminister“ Wolfgang Clement (beide SPD) eine Gelsenkirchen-Konferenz einberufen.

Während Rexam das Dosenpfand zu schaffen macht, bereitet den anderen Firmen der Kostendruck Probleme. TRW will die Hälfte seiner Arbeitsplätze nach Tschechien verlagern, wohin es laut Betriebsrat auch Vaillant zieht. Saint-Gobain ist vom Export abhängig und kann mit der chinesischen Konkurrenz nicht mithalten. Firmensprecherin Regina Decker: „Auch qualitativ haben die Chinesen einen Riesensprung gemacht.“

Noch vor wenigen Jahren galt das so genannte duktile Rohr als innovatives Produkt, doch sei der Vorsprung rasend schnell aufgeholt worden. In Gelsenkirchen sei die Fertigung aber auch im Vergleich mit anderen europäischen Standorten von Saint-Gobain zu teuer. „Mit Mühe und Not können wir die anderen Standorte noch halten. In Gelsenkirchen müssten wir quasi ein neues Werk hochziehen, um leidlich konkurrenzfähig zu sein“, sagt Regina Decker. Ein „Jahrhundertauftrag“ sei es gewesen, der die Gießereien auch im letzten Jahr noch ausgelastet habe. Ohne diesen Auftrag wäre das Aus für Gelsenkirchen wohl noch früher gekommen.

Die Belegschaft wolle man nicht im Regen stehen lassen und so vielen wie möglich einen Arbeitsplatz an einem anderen der 50 Standorte in Deutschland anbieten. „Das sind zwar keine Gießereien wie in Gelsenkirchen, sondern Hersteller von Glas oder Baustoffen, aber nach einer kurzen Anlernphase wird das schon gehen“, ist sich Decker sicher. Sie kündigt an, dass ein firmeninternes Vermittlungsbüro eingerichtet wird.

Betriebsrat Jürgen Schäfers und IG Metall Sekretär Jörn Meiners wollen sich mit der Werksschließung nicht abfinden. „Ich bin aus allen Wolken gefallen. Die haben das generalstabsmäßig vorbereitet, um uns kalt zu erwischen“, sagt Jörn Meiners. Es habe keine Anzeichen für eine drohende Schließung gegeben. Das von der Konzernleitung vorgelegte Zahlenmaterial gebe nicht viel mehr her, außer, dass in China alles billiger sei. An Ersatzarbeitsplätze könne er angesichts des Arbeitsmarktes nicht glauben.

Wie bei Vaillant setzt auch der Saint-Gobain Betriebsrat auf die Überprüfung der Zahlen durch einen Gegengutachter. „Es geht nicht nur um TRW, um Vaillant oder Saint-Gobain als Einzelbetriebe. Jetzt müssen alle betroffenen Belegschaften zusammenrücken. Die ganze Stadt muss sich wehren“, fordert Jörn Meiners. Vieles sei in den letzten Wochen schon gelaufen – Unterschriftenlisten, Autokorso und eine Menschenkette quer durch Gelsenkirchens Innenstadt, an der selbst Ministerpräsident Peer Steinbrück (SPD) teilnahm. „Doch das alles reicht offenbar nicht.“

In der 170.000 EinwohnerInnen zählenden italienischen Stadt Terni seien 30.000 Menschen auf der Straße gewesen als die Elektrobandfertigung des ThyssenKrupp Konzerns gefährdet schien. Daraufhin habe die Konzernspitze ihre Überlegungen erstmal auf Eis gelegt. Neben Italien lässt der Stahlriese Elektroband auch in Frankreich und in Deutschland fertigen – bei EBG in Gelsenkirchen. Doch auch hier konnte zunächst Entwarnung gegeben werden. Wie in Gelsenkirchen eine ähnliche Mobilisierung wie in Terni zu erreichen sei? Darauf hat Jörn Meiners noch keine Antwort, aber: „Wir müssen alle an einen Tisch und sehen, ob wir so etwas nicht auch hinkriegen.“