Einfach nur staunen

Kita „Räuberhöhle“ im sozialen Brennpunkt Jenfeld droht die Schließung. Kinder mit geringen Deutschkenntnissen werden nur noch vier Stunden betreut. Schulleiter im Stadtteil warnt, Kürzung werde sich „rächen“, da sie Förderschüler produziere

„In einem Stadtteil wie unserem ist die Sprache der Schlüssel zum Glück.“ „Wenn sie zu uns kommen, fassen die Kinder nicht mal eine Schaufel an, weil sie überwältigt sind.“

von KAIJA KUTTER

„Cigara, Cigara“, ruft der Kleine und freut sich. Er hält eine ganze Wanne voll Pappschachteln mit nachgemachten Spielzeuglebensmitteln in der Hand. Es sind Fischstäbchen, Eiscreme, Kaffee, Nudeln. Er versteht keines dieser Worte, nur „Cigara!“. Der 4-jährige Akil kommt aufgeregt herein: „Isa hat, ein kaltes, ein kaltes, hat ihn weh getan“, erklärt er der Kita-Leiterin. Er will sagen, dass Isa sich weh getan hat und er ein kaltes Tuch holen soll. Nächste Szene: Die Kinder spielen Eisenbahn, Ali und Akil sitzen vorne und machen Brumm-Gräusche, Sarah, Isa, Mitra, Alex und Avnora dahinter. In welche Stadt sie fahren? „Bahnhof“ vielleicht. Akil fährt zum Bahnhof.

„Einen Ausflug können wir gar nicht mehr machen, dafür reicht die Zeit nicht“, erklärt Leiterin Gabriele Scholz. Die Kinder hier kennen nur ihre Plattenbausiedlung am Gleiwitzer Bogen in Jenfeld, dem unstrittig als sozialen Brennpunkt anerkannten östlichsten Zipfel der Stadt. Und eben ihre Kita namens „Räuberhöhle“ auf dem gleichnamigen Bauspielplatz. Und die ist durch das Kita-Gutscheinsystem akut von Schließung bedroht.

Monat für Monat, so berichtet Scholz, müssen zwei bis drei Kinder die Schulkindhortgruppe verlassen. Und dass, obwohl sie die Hausaufgaben ohne Hilfe nicht bewältigen können. Doch Hortplätze sind für Migrantenkinder mit Integrationsbedarf nicht mehr vorgesehen. „Wir haben ein Kind, das kommt direkt aus Indien und hat einen richtigen Kulturschock“, erklärt eine Erzieherin, „das bräuchte dringend Schularbeitenhilfe und soziale Integration.“ Doch die Chance auf einen Platz hat das Kind nicht.

Schlimmer noch ist die Entwicklung in der Kindergartengruppe der Drei- bis Sechsjährigen. „Wir haben seit Sommer 13 Kinder neu aufgenommen, die alle kein Wort deutsch sprechen und viel Zuwendung brauchen“, sagt Scholz. Viele von ihnen hatten vorher zu viel Fernsehkonsum und kaum Kontakt zu anderen Kindern. „Wenn die zu uns kommen, fassen die nicht mal eine Schaufel an, weil sie überwältigt sind. Da ist keine Neugier, kein Spieltrieb sondern einfach nur Staunen.“

Ein halbes Jahr später sind die Kinder sichtlich aufgetaut, nur die dreijährige Tukli aus Vietnam spricht nicht, versteckt sich aber in einem durchsichtigen Kleidersack und spielt Gespenst. Tags zuvor haben die Kinder Plastikostereier mit Gipsbinden überzogen, um Erfahrungen mit neuen Materialen zu sammeln. Und auch das Eisenbahnspiel entwickelt sich doch noch weiter: Es werden Fahrkarten verkauft, es wird ein- und ausgestiegen. Die Erzieherinnen tun, was sie können, um die Kinder zu fördern. Doch selbst der fünfjährige Alexander, ein Kind russischer Eltern, das sich nach Scholz‘ Einschätzung sprachlich sehr gut entwickelte, wurde von der Einschulung zurückgestuft.

Im alten Kita-System stand „Integrationsbedarf“ an dritter Stelle, hatten diese Kinder in der Regel einen Ganztags- oder Sechs-Stunden-Platz. Doch im neuen System dürfen sie nur für vier Stunden in der Kita bleiben, was bundesweiter Rechtsanspruch ist. Scholz: „Am Anfang sind vier Stunden sehr viel, aber bald merkt man, dass dies überhaupt nicht reicht.“

Diese Einschätzung teilt auch Peter Krampitz, der stellvertretende Schulleiter der benachtbarten Grundschule Öjendorfer Damm. „In vier Stunden nehmen diese Kinder nicht genug mit, um eingeschult zu werden“, erklärte er nach einem Besuch in der Kita. Die Kürzung an dieser Stelle werde sich später „bitter rächen“, weil man hier potenzielle Förderschüler entwickele.

Für Krampitz kommt es vor allem darauf an, dass sich die Kinder täglich möglichst lange mit deutsch sprechenden Kindern in gemischten Gruppen aufhalten, um die Sprache zu lernen. Ohne diese verpassten sie in der 1. und 2. Klasse den wichtigen Lernschritt, Sprache und Schrift umzuwandeln, was sie später nicht wieder aufholen könnten. Krampitz: „In einem Stadtteil wie unserem ist die Sprache der Schlüssel zum Glück.“

Eigentlich wollte der alte Senat das Thema Sprachförderung ganz groß angehen. 16.000 Vierjährige sollten bis März zur Erstuntersuchung an Grundschulen vorgestellt werden, um festzustellen, ob sie Sprachförderbedarf haben. Unklar war stets, was daraus folgt. Bildungsbehördensprecher Alexander Luckow konnte gestern nicht sagen, ob oder wann es Ergebnisse gibt. Während man in den „sozialen Brennpunkten“ gerade eine Kindergeneration um ihre Zukunftschancen bringt, leistet sich die verantwortliche Behörde nach der Wahl eine Pause.