„Es geht um mehr als nur Kündigungsschutz“

Aktuell zeigt sich, dass die Gewerkschaften nicht mehr für die Mehrheit der Arbeitnehmer sprechen, meint der Volkswirt Klaus-Peter Müller

taz: Herr Müller, sind Sie Gewerkschaftsmitglied?

Hans-Peter Müller: Ich habe einen GEW-Ausweis, ein Relikt aus uralten Zeiten. Ich denke aber ab und zu daran, ihn zurückzugeben.

Steht die momentane Medienpräsenz der Gewerkschaften im richtigen Verhältnis zu ihrer Macht?

In keiner Weise. Den Gewerkschaften laufen seit der Wende die Leute davon. Und nur eine Minderheit der eigenen Mitglieder stützt den harten Kurs der Funktionäre – das sind gerade mal 37 Prozent.

Warum können sie dann noch verhältnismäßig machtvoll auftreten?

Die Gewerkschaften haben durch Fusionen die Machtverluste ausgeglichen, die sie im Einzelfall hinnehmen müssen. Innerhalb von zehn Jahren sind aus sechzehn Gewerkschaften acht geworden. Zwei davon, Ver.di und die IG Metall, haben durch ihre beherrschende Stellung die Dachorganisation DGB an die Wand gedrückt – zudem treten diese beiden sehr geschlossen auf.

Kanzler Schröder, der seine Wiederwahl auch den Gewerkschaften verdankt, geht jetzt klar auf Konfrontationskurs. Ein Wendepunkt?

Bisher haben die Gewerkschafter eine Art politischer Dividende einfordern können – damit ist Schluss. Es geht nicht mehr um Kleinigkeiten wie ein bisschen mehr oder weniger Kündigungsschutz. Bei den anstehenden großen Sozialreformen stellt sich heraus, dass die Gewerkschaften ihren Anspruch, für den arbeitenden Teil der Bevölkerung zu sprechen, nicht mehr einlösen können …

weil nur noch 16 Prozent der Beschäftigten organisiert sind?

Nicht nur. Der Organisationsgrad der Beschäftigten lag in Deutschland nie höher als 30 oder 35 Prozent. Doch die Gewerkschaften betreiben zunehmend Klientelpolitik. Früher konnten von Gewerkschaftspositionen viele profitieren, weil einfach mehr Jobs da waren. Heute sind Gewinner und Verlierer anders aufgeteilt. Die Arbeitnehmerorganisationen reagieren mit Interessenpolitik für ihre Mitglieder. Sie stellen das Wohl weniger über das Wohl der Allgemeinheit.

Die Rhetorik von Funktionären wie Sommer oder Bsirske wirkt altbacken. Woher kommt der Hang zur Parole?

Beide haben im selben Jahrzehnt am linken Otto-Suhr-Institut in Berlin studiert. Vielleicht liegt es daran, dass sie oft in Schwarzweißschablonen denken. Sie greifen auf einfache Denkmuster, eine klar strukturierte Welt zurück, wenn sie sich angegriffen fühlen.

DGB-Chef Sommer macht immerhin Gegenvorschläge zur Agenda 2010. Eine Blockade sieht anders aus.

Aber die Rezepte sind veraltet. Eine vorgezogene Steuerreform und Wachstumsprogramme bedeuten mehr Schulden. Die deutschen Gewerkschaften wurden groß, als Wachstum eine Grundkonstante war. Ihre Lösungen funktionierten – zugespitzt – so lange, wie man den Sozialstaat immer wieder dafür gewinnen konnte, sozialen Unwillen wegzukaufen. Sie können nicht mehr die Rahmenbedingungen der Siebzigerjahre politisch erpressen.

Was müssen sie tun, um nicht als Auslaufmodell zu enden?

Sie sollten sich von ihren überholten Paradigmen verabschieden. Man kann nicht mit Gewerkschaftstagsbeschlüssen die Demografie außer Kraft setzen.

INTERVIEW: ULRICH SCHULTE