Was ist eine Stadt?

Der Disput um die neue Nutzung der alten Hafenreviere ist alt. Senatoren wurden darüber schizophren, ansässige Betriebe lieferten sich teils hitzige, teils moderate Gefechte mit den Stadtentwicklern. Überseestadt: eine spannende Geschichte

In seiner Rolle als Häfensenator widersprach Konrad Kunick dem Bausenator, der er auch war

Bevor der Bremer Senat im März 1999 beschloss, das Hafengebiet zwischen dem ehemaligen A.G. Weser-Areal und der Innenstadt umzuwandeln, hatten andere europäische Städte wie Rotterdam, Amsterdam, London, Glasgow, Liverpool, Oslo, Stockholm, Barcelona schon mit dem selben Thema Erfahrungen gesammelt. Große Flächen, auf denen sich Gleisanlagen oder Lagergebäude befanden, wurden wegen des zunehmenden Einsatzes von Containern, des schnelleren Güterumschlags und der kurzer Lagerzeiten nicht mehr benötigt. Brachen standen zur Disposition.

Auch in Bremen wurde seit mehr als einem Jahrzehnt über Umnutzungen nachgedacht. In den Achtzigern, stärker noch in den Neunzigern, ging der Güterumschlag um fast die Hälfte zurück. Sowohl die Hafenwirtschaft als auch die Stadt standen vor einer völlig neuen, dramatischen Situation. Zu Beginn der Neunziger formierten sich erstmals die Interessengruppen, welche in der Folgezeit bis heute – zeitweise hitzig, zeitweise moderat – über die Flächen disputieren. Das Jahr 1990 endete mit einem politischen Paukenschlag, der die lokalen Macht- und Interessenkonstellationen schlaglichtartig offen legte: Konrad Kunick war damals sowohl Bausenator als auch Häfensenator. Neben dem Bauressort – und diesem inhaltlich nahe stehend – gab es das Ressort für Umweltschutz und Stadtentwicklung (Senatorin: Eva Maria Lemke-Schulte). Beide Seiten konnten in ihren politischen und ideologischen Zielsetzungen nicht unterschiedlicher sein: Hier der Senator für Häfen, der traditionsbewussten Hafenwirtschaft verpflichtet, die jede Umnutzung „ihrer“ Gebiete ablehnte; da die Ressorts für Bau und Umweltschutz und Stadtentwicklung, wo man gerade in der Veränderung die Chance sah, eine flächensparende, prozesshafte Entwicklung voranzutreiben. Im September 1990 trat der Bausenator Kunick an die Öffentlichkeit und verkündete seine Absicht, einen neuen Stadtteil im Hafen entstehen zu lassen – die „Havenstadt“. Sein Konzept: Ein unwirtschaftlich gewordener, mit Sand verfüllter Europahafen sollte das Terrain für 2.500 neue innenstadtnahe Wohnungen bilden; daneben sollte das ansässige Gewerbe – als notwendige Ergänzung für eine nach innen gerichtete Stadtentwicklung – verbleiben. Die Reaktion ließ nicht lange auf sich warten. Alle Betriebe, die Grundstücke im Europahafen besaßen, protestierten massiv und drohten mit Standortverlagerungen außerhalb Bremens.

Der hafenpolitische Sprecher der CDU kritisierte Kunicks Pläne als „unverantwortliches, leichtfertiges Geschwätz“. Der Druck auf den Doppelsenator wurde größer. Im Oktober 1990 knickte Kunick ein. In seiner Rolle als Häfensenator widersprach er dem Bausenator, der er auch war und plädierte für einen Europahafen als Gewerbegebiet (ohne Wohnungen). So geschah es. Die Hafendeputation gab den Firmen Minolta (Kakao-Umschlag) und Scipio (Fruchtumschlag) eine Bestands- und Neubaugarantie und verkaufte den Firmen Eduscho und Kellogg’s insgesamt 60.000 qm Hafengelände. Die Spedition Vollers erhielt Grundstücksflächen im Erbbaurecht. Das Ergebnis nach einem halben Jahr: Die Absicht des Bausenators und der Senatorin für Umweltschutz und Stadtentwicklung, mit einer Mischnutzung von Wohnen und Gewerbe den bisherigen Hafen zu einem lebendigen Stadtteil zwischen Innenstadt und Bremer Westen zu machen, war gescheitert. Zugleich wurden mit dem öffentlichen Streit zwei Standpunkte deutlich, die bis heute gültig bleiben: ein städtebaulicher, der die weitere Auflösung der Stadt verhindern und die vorhandenen Flächenressourcen für eine innere Verdichtung verwenden will; ein wirtschaftlicher, der für eine Erhaltung des Hafenquartiers als reines Gewerbegebiet plädiert.

Offener Prozess oder Erhalt – damit ist das Feld abgezeichnet, auf dem die Auseinandersetzungen von 1990 bis heute stattfinden. (Einige historische Daten siehe Kasten.) Mit der Zustimmung zum Masterplan im März 2003 haben die jahrelangen Auseinandersetzungen, die Angriffe, Rückzüge und Verteidigungsgefechte einen vorläufigen Abschluss gefunden. Aber was wird aus einem zentralen Gebiet, für das es entscheidend sein muss – so Henning Scherf – „was Investoren wollen“. Eine Stadt?

Prof. Uwe Süchting, FB Architektur an der Hochschule Bremen

Dieser Text erschien zuerst in der Märzausgabe der ZETT, Zeitung der Bremer Kulturzentren Schlachthof und Lagerhaus