Das Haus der tausend Ohren

Einweihungsparty zum Abgewöhnen: Mit viel Freibier und einer Massenlesung eröffnete am Donnerstag die Literaturwerkstatt ihr neues Haus in der Kulturbrauerei

Zwei Jahre lang war die Literaturwerkstatt von einem Provisorium zum anderen gezogen, das alte Domizil in Pankow hatte man verlassen müssen. Nun ist man angekommen im neuen Haus auf dem Gelände der Kulturbrauerei. Grund genug, eine House-Warming-Party zu feiern. Die Idee war folgende: Viele Autoren lesen gleichzeitig in den verschiedenen Räumen des neuen Domizils, das Publikum folgt ihnen, auf dass sich Autoren und Gäste das Haus hörend wie lesend aneignen können.

Eine schöne Idee, die aber leider nicht funktionierte. Um Schlag acht waren bereits alle Lesezimmer überfüllt, vom Sekretariat bis zum Besprechungsraum. Dicht gedrängt im Türrahmen stehend konnte man in der Ferne einen Autor vor einer Regalwand erkennen, dann wurden die Räume wegen Überfüllung geschlossen und man stand mit anderen Fremden im zugigen Treppenhaus herum.

Mit dem tröstlichen Wissen, dass Lesungen an sich ein langweiliger und zurzeit stark überbewertete Zeitvertreib sind, konnte man im großen Veranstaltungsraum im Erdgeschoss an Plastikstehtischen abwarten, was der Abend bringt, und nebenbei Milieustudien betreiben. Vertreter von Verlagen, von Kulturradios und Zeitschriften standen herum, Kulturdezernenten und Literaturbetriebsinteressierte. Autoren dagegen bekam man nicht zu Gesicht, denn Kathrin Röggla, Thomas Lehr, Felicitas Hoppe und andere saßen ja in den verschlossenen, überfüllten Räumen im Obergeschoss.

Die Männer unten fielen durch ihre Kopfbedeckungen auf: Mit gehäkelten Baumwollmützen, Piratentüchern, Tweedkappen und Leopardenmusterhüten sowie ironischen Schnauzern und Schnurrbärten versuchte man fleißig Individualität zu demonstrieren. Auch abgegriffene Ledertaschen und antik abgewetzte Schulranzen schienen an diesem Abend ein „must“ für den literarischen Herrn zu sein.

Ob es allein am Veranstaltungsgenre lag, dass die Eröffnung des neuen Hauses zur unglamourösen Stehparty verkam, oder an der Umgebung, dem zu Tode renovierten Gelände der Kulturbrauerei, war schwer zu sagen. Das Bier war jedenfalls umsonst, der Wein kostete und im Hintergrund lief nicht identifizierbare Musik. Und so floß die Zeit zäh dahin, während man auf die Grußworte von Direktor Thomas Wohlfahrt und Thomas Flierl, dem Senator für Wissenschaft, Forschung und Kultur, wartete. Wenigstens Thomas Flierls Anwesenheit sorgte für Kurzweil, konnte man doch wieder feststellen, dass Politiker im wahren Leben viel kleiner sind, als sie im Fernsehen wirken.

Der Senator begrüßte die FreundInnen der Literatur und wünschte dem Direktor Kraft und Glück im neuen Haus. Thomas Wohlfahrt berichtete vom langen Umzug und den zahlreichen Projekten der Literaturwerkstatt, vom „Open Mike“, dem wichtigsten Nachwuchswettberwerb im deutschsprachigen Raum, vom „Sommerfest der Poesie“ und dem Onlineprojekt „lyricline“.

Dann hieß es „Bühne frei!“ für die szenische Lesung „Schillers Leiche“. Es sollte der Tiefpunkt eines unspektakulären Abends werden: Nach einem kurzen Kulturfilm kam eine ambitioniert wirkende blonde Frau auf die Bühne, stellte sich als J. F. Schiller vor und fuhr in jenem belehrenden Ton, der einen auch die literarischen Features der Kulturradios hassen lässt, fort, sie habe Post von ihrem Freund Iffland bekommen, und kürzlich wären ja „die Räuber“ in Mannheim aufgeführt worden. Bald steigerte sie ihren Vortrag, riss die Arme hoch und schrie den schlechten, schulmeisterlichen Text mit großer Emphase ins Publikum. Ein schlimmer Abend, von nun an wird es notgedrungen aufwärts gehen. CHRISTIANE RÖSINGER